Support

»Es fühlt sich an wie eine Familie«

Die HSV-Frauen spielen seit dem Sommer in der Bundesliga – ihre Fans sind aber schon deutlich länger mit ihnen unterwegs. Und sie nehmen für ihre Leidenschaft lange Fahrten, laue Pommes und viele Probestunden mit der Trommel auf sich.

Text Alexander Nortrup ~ Fotos Marius Maasewerd

Die Fahrt dauert schon viele Stunden, als Jan es nicht mehr aushält. Er muss so dringend pinkeln. Und bis nach Leverkusen ist es noch verflucht weit. „Giuli“, ruft er nach vorn, wo Giuliano, der Vorsänger der HSV-Frauen-Supporters, gerade zwischen Hagen und Wuppertal Stoßstangenslalom auf der A1 fährt, nebenbei aus der Playlist immer neue HSV-Fansongs auswählt und bei alledem den Kopf seiner dösenden Freundin Fiona vorsichtig auf der Schulter balanciert. „Giuli“, ruft Jan noch einmal etwas lauter, „wir müssen echt mal Pause machen.“

Alle Plätze im Wagen sind besetzt an diesem Abend, der Sauerstoff in der Luft entsprechend verbraucht. Es sind gar nicht viele Staus an diesem Mittwoch, es ist auch keine endlos lange Strecke von Stade bis an den Rhein zum Auswärtsspiel bei der Werkself. Aber der Feierabendverkehr ist verflucht dicht. Und alle hatten schon einen Arbeitstag oder viele Stunden Berufsschule in den Knochen, als sie in den Minibus stiegen. Giuliano folgt dem nächsten Autohof-Schild und lässt den Wagen an einer Tanksäule stehen. Nach und nach stürmen alle einmal die Sanifair-Toiletten. Rauten in allen Varianten zieren Trikots, Jacken und Schals der Reisenden. Ein zweites Auto mit befreundeten Fans hält, die gemeinsame Pause tut allen erkennbar gut. Nach knapp zehn Minuten geht es auf die letzte Etappe zum Spiel des Tabellendritten gegen den Tabellenzwölften.

Kein Weg zu weit, kein Weg zu beschwerlich: Die Fans der HSV-Frauen fahren auch abends unter der Woche zum Auswärtsspiel nach Leverkusen.

Viele im Auto waren nicht immer Fans von Frauenfußball, manche regelmäßig bei der HSV-Männermannschaft. „Irgendwann zu den Aufstiegsspielen der Frauen kam dann ein Support-Aufruf von den Ultras“, sagt Giuliano. Also ging er hin. Und bald nach den gewonnenen Spielen war vielen klar: Hier bleiben wir. Es folgte die Trommel, die Jan und Matthias zusammen kauften. Und die Zaunfahne, ebenfalls gemeinsam gestaltet. Und es folgten jede Menge Fahrten quer durch die Republik wie jene nach Leverkusen.

Acht Stunden hin, acht Stunden zurück

„Die Mädels kommen zum Abklatschen, die freuen sich voll. Es ist eine richtig familiäre Atmosphäre, freundlich, mit mehr Zusammenhalt als bei den Herren“, sagt Giuliano, der später nach dem Spiel keine Stimme mehr haben wird, weil er die Gesänge wieder und wieder anstimmt, immer neu die treu Singenden antreibt. Auch Alkohol sei im Block lange nicht so ein großes Problem wie bei den Herren. Und dann hupt der Hamburger, weil vor ihm ein BMW die Überholspur gefühlt in Zeitlupe befährt. „Der schleicht ja die ganze Zeit schon so“, sagt Giuli und stellt einen neuen HSV-Song ein.

Die Zeit ist knapp, alle wollen rechtzeitig vor dem Anpfiff ankommen. Die Stimmung im Auto leidet darunter nicht, sie ist freundschaftlich – man kennt sich, hat schon viel gemeinsam erlebt. „In unserer Whatsapp-Gruppe sind knapp dreißig Personen“, erklärt Jan, der Trommler, der ganz hinten auf der Dreierbank sitzt. Keine festen Strukturen, jede und jeder kann mitmachen. Hamburg, Bremen, Delmenhorst, Buxtehude – die Wohnorte seien bunt gemischt. Einer von ihnen reise sogar regelmäßig aus Flensburg zu den Auswärtsspielen an, sagt Giuli vom Fahrersitz und strahlt stolz. Einmal sei das besonders hart gewesen: bei einem Freitagsspiel in Freiburg. Acht Stunden hin, dennoch zwanzig Minuten zu spät, dann noch in der Nacht wieder zurück. „Ich will gar nicht wissen, wie viele Tausend Kilometer wir schon auf der Autobahn gelassen haben“, sagt der Vorsänger.

„Aber zumindest die Pommes lohnen sich doch fast immer“, ruft Matthias von der Rückbank. „Die in Gütersloh waren sensationell. Und die in Gladbach waren auch superlecker.“ Während der vollbepackte Neunsitzer gen Westen zuckelt, dreht sich das Gespräch immer wieder um Auswärtsfahrten und ihre Zutaten: merkwürdige Stadien, quälend lange Anfahrten, schales Bier und überteuerten Glühwein, lautstarken Support und lauwarme Bratwurst.

»Die Mädels kommen zum Abklatschen. Da ist mehr Zusammenhalt als bei den ­Herren.«

Giuliano,
Vorsänger HSV-Frauen

Kurz vor der Autobahnabfahrt zum Stadion, als schon das sich langsam drehende Bayer-Kreuz grell am dunklen Abendhimmel auftaucht, schickt Susi eine SMS mit der Aufstellung. Ein spitzer Aufschrei vorn rechts, wo Anni ihr Handy gezückt und die wichtigste Personalie direkt entdeckt hat: Inga steht im Tor! Inga Schuldt, die beim Warmmachen auch mal die Gesänge aus dem Block mitsingt und immer ein freundliches Wort für die Ultras übrig hat. Die zuvor leicht schläfrige Stimmung im Bus erreicht kurz vor der Ankunft ihren Siedepunkt. Die Mannschaft ist schon da. Wegen dieser 19 Frauen, die an jenem Abend im Kader stehen, hat sich die Reise für alle gelohnt.

Klar, spätestens nach dem Aufstieg 2025 habe sich manches geändert, sagt Matthias: „In der Regionalliga gab es Bier, Kuchen und Capri-Sonne. Einiges wurde sogar von den Familien der Spielerinnen organisiert.“ Selbst eine Bratwurst mit HSV-Legende Horst Hrubesch sei drin gewesen.

Auf dem Weg nach Leverkusen fachsimpeln Niklas (li.) und Jan, mit welcher Startaufstellung der HSV wohl in die Partie gehen mag.

Volle Hingabe und Einsatz: Die HSV-Fans geben ­alles, um die HSV-Frauen zu unterstützen.

Die Fans pushen die Mannschaft

Inzwischen, zwei Ligen höher, gebe es nicht nur durchweg stärkere Gegnerinnen, auch die räumliche Distanz zum eigenen Team sei ein bisschen größer geworden allein schon wegen der größeren Stadien mit hohen Absperrungen. Er könne das durchaus verstehen, sagt Matthias – und hat für die Sportlerinnen, deren Spiele ihn regelmäßig Wochenenden und Wochentage kosten, nur höchste Anerkennung übrig: „Die investieren so viel mehr als viele männliche Kicker. Die gehen wirklich ins Risiko. Für deren Karriere gibt es finanziell keine Absicherung, keine Gewissheit.“

Alle, die an jenem Mittwochnachmittag die Fahrt ins Rheinland auf sich nehmen, haben eine klare Motivation, die Anni auf den Punkt bringt: „Für die Spielerinnen und das ganze Team gehören wir beinahe zur Mannschaft dazu. Die freuen sich so krass über uns, gerade auswärts.“ Bei den Herren dagegen sei man eben Teil einer großen Masse, von vielen Tausend Auswärtsfahrerinnen und -fahrern. „Ich fahre auch noch viel zu den Herren, aber ich versuche, jedes Spiel der Frauen mitzunehmen“, sagt Alex, der eher still auf der Mittelbank sitzt. „Wir hören ganz klar von der Mannschaft, dass sie das pusht“, sagt er. „Und Svea (Stoldt, Rückennummer 8, defensives Mittelfeld, Anm. d. Red.) hat auch mal gesagt, dass sie der Support nach vorn bringt.“

Spuren hinterlassen: Wo auch immer die HSV-Frauen antreten müssen, sie können sich auf den Support ihrer Fans verlassen.

Die Ultras und die Raute-Frauen – sie haben gemeinsam schon ganz schön Strecke gemacht: Vor zwei Jahren noch Regionalliga auf besseren Dorfplätzen, dann Derby auf St. Pauli und Halbfinale im DFB-Pokal gegen Werder vor 57.000 Menschen. Und nun soll mit der ersten Saison in der höchsten Spielklasse – zumindest für die Auswärtsfahrerinnen und -fahrer – eine neue Ära beginnen. Eine, in der die Hansestadt auch im Frauenfußball große Erfolge feiert. Und die Mannschaft Fans begeistert, wohin auch immer sie kommt. Knapp dreißig Ultras und siebzig andere Fans werden es schließlich sein unter dem Bayer-Kreuz an jenem Novembertag. Es gibt auch in Männerligen nicht wenige Teams, die für ein Auswärtsspiel am Mittwoch weniger Fans begeistern.

Trotz Niederlage sorgen die mitgereisten HSV-Fans über die gesamte Spielzeit für Stimmung.

Beim Einmarsch aufs Spielfeld ­machen die HSV-Fans ordentlich Lärm.

Abgetrennte ­Gästeblöcke gibt es nur selten

Zehn Tage später etwa müssen Leverkusens Frauen zum Pokalspiel nach Hamburg. Es steht lange unentschieden, beide Teams haben Chancen, ein Elfmeterschießen muss am Ende entscheiden. Am nächsten Tag werden die Schlagzeilen einer anderen HSV-Torfrau gehören: Larissa Haidner, die einen Elfer hält und ihrer Mannschaft und knapp 4000 Fans im Volkspark große Glücksgefühle und den Einzug ins Viertelfinale beschert. Beinahe gespenstisch leer wirkt dagegen der Gästeblock im ordentlich gefüllten Rund des Volksparks: Elf Auswärtsfans bringt das mit Nationalspielerinnen gespickte und tabellarisch deutlich höher positionierte Bayer-Team mit an die Elbe.

Die Dunkelheit bricht herein über die inzwischen seit fast fünf Stunden Reisenden. Jan schaut aus dem Fenster, klopft ab und zu mit den Fingern auf die Rückenlehne des Vordersitzes. Er sagt von sich, dass er kein Rhythmusgefühl habe – deshalb hat er bei einem Schlagzeuger Unterricht genommen, um den Trommelsound über die volle Spielzeit sauber durchzuhalten. „Fast über neunzig Minuten im Takt bleiben – das ist wirklich Sport“, sagt Jan. Seine perfekt zu den von Giuliano angestimmten Gesängen passenden Rhythmen werden später im direkt neben der BayArena gelegenen Ulrich-Haberland-Stadion das einzige durchgehend zu hörende Geräusch sein – und der HSV-Block die einzige wirklich laute Fangruppierung. Jan mit seinen raspelkurzen Haaren hat gerade sein Studium abgebrochen und auch deshalb ein bisschen Zeit – also perfektioniert er weiter sein Trommelspiel, kümmert sich um Social Media, entwirft Sticker. Kaum ist die Wagentür auf dem Parkplatz vor dem Leverkusener Stadion aufgegangen, springt er schon, mit Stickern munitioniert, zum nächsten Betonpfeiler und klebt ganz weit oben eine HSV-Frauen-Raute über ein Bayer-Kreuz.

Wie bei vielen Spielen in der ersten Liga der Frauen gibt es auch in Leverkusen keinen abgetrennten Gästeblock, eine Selbstverständlichkeit im Herrenbereich. Sie wüssten oft nicht genau, wo sie eigentlich stehen sollen, klagen die HSV-Frauen-Supporter – und müssten manchmal auch neben Leuten stehen, „die einem ans Leder wollen“. Das zumindest ist in Leverkusen nicht der Fall: Alles verläuft friedlich, drei Tore bietet die Partie, ein Gegentor kurz vor Schluss besiegelt eine unglückliche Niederlage. Die Köpfe hängen kurz kollektiv, bis Giuliano erneut anstimmt: „Kommt schon!“ Der Schlusspfiff beendet auch den Support, die deutlich erfahrenere Mannschaft hat sich den Sieg geschnappt. Für alle Bullifahrer:innen ist letztlich nicht die Niederlage das bleibende Erlebnis, sondern das, was danach kommt: Abklatschen und kurzer Klönschnack mit den HSV-Spielerinnen. „Für uns sind diese Fans echt der Wahnsinn, es fühlt sich an wie eine Familie“, sagt die vollkommen entkräftete Mittelfeldfrau Svea Stoldt am Gitter, als hätte sie die Gespräche im Bulli mitgehört. „Egal an welchem Tag, egal bei welchem Spielstand die sind einfach immer da.“