Kneipengespräch

Mit Medizinbällen Richtung Europapokal

Schwelgen in Erinnerungen: Der ehemalige Spieler Stefan Schnoor (links) und Jürgen Ahlert, damals Mannschaftsbus-Fahrer, haben Mitte der Neunziger viel mit dem HSV erlebt.

Das Bistro Picknick, zwei Fußballplatzlängen vom Volksparkstadion entfernt, ist ein guter Ort, um sich über große Geschichten zu unterhalten. An jedem Heimspieltag werden hier neue Storys geschrieben, wird sich beim Fassbier an das erinnert, was mal war und nie vergessen wird.

Text Alex Raack ~ Fotos Julius Schrank

Hat heute wieder gut lachen: Stefan Schnoor muss schmunzeln, wenn er auf die Trainingsmethoden von Felix Magath zurückblickt.

Zum Beispiel jene Saison 1995/1996, als der Hamburger SV unter Trainer Benno Möhlmann nach acht Spieltagen auf Tabellenplatz 17 stand und anschließend unter der Führung von zwei Vereinslegenden die Kehrtwende schaffte. Mit Vereinspräsident Uwe Seeler und Felix Magath an der Seitenlinie gelang dem HSV damals mit einem 4:1-Sieg am letzten Spieltag gegen Eintracht Frankfurt doch noch die Qualifikation für den Uefa-Cup. Die verrückte Aufholjagd war die Krönung einer Spielzeit, in der Torhüter im Angriff spielten, sich ein WM-Held die neuen Breitreifen klauen ließ, ein fast zwei Meter großes Mysterium zum Hoffnungsträger wurde und eine HSV-Ikone zum Schleifer der Nation aufstieg.

Vor dreißig Jahren mittendrin und voll dabei: Jürgen „Bussi“ Ahlert, heute Koordinator der HSV-Ehrenliga, damals durch Zufall angeheuerter Busfahrer, und Stefan Schnoor, HSV-Eigengewächs und zuverlässiger Innenverteidiger. Das Treffen im Picknick findet nach Feierabend statt, aber Bussi Ahlert kennt die Besitzerin: Es ist seine Nichte.

Jürgen Ahlert, Stefan Schnoor, dass die Saison 1995/1996 mit der Last-minute-Qualifikation für den Europapokal enden würde, war im ersten Drittel noch kaum abzusehen. War Benno Möhlmann der falsche Trainer für diese Mannschaft?
Stefan Schnoor: Ich glaube eher, dass man ihm in dieser Spielzeit nicht die nötige Zeit gegeben hat. Benno war ein guter Trainer, ein ruhiger und sachlicher Typ, der nur dann laut wurde, wenn es wirklich nötig war. Irgendwie war damals trotzdem der Wurm drin, und wie so oft musste der Trainer am Ende seinen Kopf hinhalten.

Jürgen Ahlert: Ein Jahr zuvor hatte mich Heribert Bruchhagen zum neuen Busfahrer der Mannschaft gemacht, ein Job, der eher durch Zufall entstanden war. Ich kannte den Profifußball nur als Fan von außen, an diesen verrückten Zirkus musste ich mich erst mal gewöhnen. Benno half mir mit seiner sympathischen Art, mich in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden. Ich fand es schade, als er schließlich entlassen wurde.

Der langjährige Bundesligaspieler Möhlmann, seit 1992 Cheftrainer beim HSV, hatte sein Amt nach Platz 13 in der Vorsaison eigentlich niederlegen wollen, nachdem ihm der damalige „Bild“-Sportchef angedroht hatte: „Benno, sieh zu, dass du deinen Vertrag auflöst, sonst müssen wir dich rausschreiben.“ So erinnert er sich jedenfalls in einem Interview mit dem „Spiegel“. Präsident Ronald Wulff überredete Möhlmann zum Weitermachen, nach acht Spieltagen mit mageren sechs Punkten war der HSV auf Platz 17 abgestürzt. Dann löste ausgerechnet Klubikone Uwe Seeler Wulff an der Vereinsspitze ab. Möhlmann: „Uwe war kaum eine Stunde Präsident, da hatte ich meine Papiere. Es war seine erste Amtshandlung.“

»Zehn Hürden, 40 Durchgänge. Anschließend konnten wir nicht mehr vorwärts die Treppe runtergehen.«

Stefan Schnoor

Im Oktober 1995 übernahm Möhlmanns Assistent Felix Magath an der Seitenlinie. Welche Erinnerungen haben sie beide an diese ersten Tage?
Schnoor: Die taten weh. Felix war der Meinung, dass uns die nötige Fitness fehlte, um in der Bundesliga zu bestehen. Ich erinnere mich noch an seine Antrittsrede. „Männer“, sagte er, „es ist wissenschaftlich bewiesen, dass der menschliche Körper selbst in Todesgefahr nicht in der Lage ist, 100 Prozent seiner Leistungsfähigkeit abzurufen, sondern maximal 87 Prozent. Ihr steht aktuell bei 60, ich bringe euch auf 83.“ Dementsprechend wurde dann auch trainiert.

Ahlert: Von diesem Moment an waren die legendären Medizinbälle stetige Begleiter im Bauch unseres Mannschaftsbusses.

Schnoor: Schon das Warmlaufen wurde zu einem Überlebenskampf. Ging ein Waldlauf vorher sieben oder acht Kilometer, waren es nun 15 oder 17, manchmal 19 Kilometer. Und das bei einer durchschnittlichen Kilometerzeit von vier Minuten und zehn Sekunden. Felix lief natürlich vorneweg, das war dem völlig egal.

Der beste Stürmer aus der damaligen HSV-Mannschaft? Schnoor und Ahlert sind sich einig: Karsten Bäron.

Mit harter Hand bringt Magath den HSV wieder auf Kurs. 3:0 gegen Freiburg, 1:0 gegen Kaiserslautern, 1:0 gegen Leverkusen, 1:0 im Derby gegen St. Pauli. Die so wechselhafte Hinrunde schließen die Hamburger mit einem furiosen 5:1-Heimsieg gegen Eintracht Frankfurt ab. Erstmals von Beginn an wieder auf dem Rasen: Karsten Bäron. 1992 für 40.000 D-Mark (!) von Hertha Zehlendorf nach Hamburg gewechselt, avanciert der Angreifer schnell zu einem der Shootingstars der Bundesliga und macht selbst die großen Bayern auf sich aufmerksam. Seit einer Knieoperation im Dezember 1994 hat Bäron pausieren müssen, selbst erfahrene Mediziner haben dem 1,97-Meter-Mann das Comeback nicht mehr zugetraut. Jetzt steht er gemeinsam mit Valdas Ivanauskas im Sturmzentrum und zeigt, warum man ihn so lange schmerzlich vermisst hat. Schon nach 17 Minuten steht es 3:0 für den HSV, zwei Tore erzielt Karsten Bäron. Hinter Dortmund, Bayern München, Stuttgart und Borussia Mönchengladbach beenden die Rothosen das Jahr 1995 auf Uefa-Cup-Rang fünf.

Schnoor: Karsten war in der Zeit mein Zimmerpartner bei Auswärtsspielen und im Trainingslager. Einer der talentiertesten Spieler, die wir damals im Verein hatten. Aufgrund seiner Größe sahen viele Aktionen manchmal etwas ungelenk aus, aber alles, was er auf dem Platz machte, hatte Hand und Fuß. Gegen ihn an den Ball zu kommen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Leider wurde er später viel zu früh zum Sportinvaliden. Ohne seine Verletzungen hätte er einer der besten Bundesligastürmer seiner Zeit werden können.

Ahlert: Karsten und ich verstanden uns sehr gut, gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern besuchte er mich sogar auf meinem Campingplatz an der Ostsee. 2000 musste er seine Karriere endgültig beenden und arbeitete anschließend als Jugendtrainer bei uns. In der Vergangenheit habe ich immer mal wieder versucht, ihn zu Spielen oder Ehemaligentreffen einzuladen, aber leider hat er sich komplett aus dem Fußball zurückgezogen.

»Die Schinderei hat dazu geführt, dass wir als Mannschaft noch enger zusammengewachsen sind.«

Stefan Schnoor

Das Wintertrainingslager 1996 verbrachte der HSV im emsländischen Herzlake. Kenner sprechen bis heute von „Schmerzlake“. Warum?
Schnoor: In der ersten Trainingseinheit mussten wir Hürdensprünge machen. Zehn Hürden, vierzig Durchgänge. Anschließend konnten wir nicht mehr vorwärts die Treppe runtergehen. Bei jedem Schritt hast du gedacht, dass gleich der Muskel abreißt. Doch das war erst der Anfang.

Ahlert: Unvergessen, wie sich die halbe Mannschaft beim Waldlauf verirrte. Eigentlich sollten die nach einer Stunde wieder am Bus sein, doch nach sechzig Minuten war kein Fußballer weit und breit zu sehen. Gemeinsam mit Gästen aus unserem Hotel sind wir ausgeschwärmt, um die Spieler zu suchen.

Schnoor: Minus acht Grad, morgens um halb acht. Und Felix wie immer ganz vorn. Statt einer Stunde sind wir zwei Stunden gelaufen, irgendwo durch die Walachei. Einer fiel in die Brennnesseln, Lumpi Spörl blieb auf dem steinhart gefrorenen Maisacker liegen. Um zwanzig vor zehn waren wir endlich wieder im Hotel. Duschen, umziehen, frühstücken und um 10:15 Uhr wieder auf dem Trainingsplatz. Denn das eigentliche Training ging jetzt erst los. Zehn 100-Meter-Läufe, achtmal 200 Meter, sechsmal 300, viermal 400 und zweimal 800. Natürlich alles in angemessen zügigem Tempo. Felix stellte sich anschließend hin und sagte: „Ihr wisst doch: Wenn nicht alle voll durchziehen, machen wir das Ganze einfach noch mal.“

Klingt in der Tat schmerzhaft.
Schnoor: An einem anderen Tag ging es am Nachmittag zum Waldlauf. Nach 13, 14 Kilometern endete der Lauf knapp 250 Meter vom Bus entfernt, der leicht erhöht am Wegesrand auf uns wartete. „Jungs, dehnt euch mal“, rief der Trainer. Prima, dachten wir, bisschen dehnen und dann bringt uns Jürgen wieder ins Hotel.

Ahlert: Bis Felix zu mir sagte: „Bussi, hol schon mal die Medizinbälle aus dem Kofferraum!“

Schnoor: Er teilte uns in Dreiergruppen auf. Zwei oben beim Bus, einer unten am Ende des Weges. Abwechselnde Läufe mit zwei Bällen unterm Arm, rauf und runter. Eine Stunde lang über sandigen Untergrund. Schon nach dem vierten Lauf hatte ich das Gefühl, dass sich meine Arme verlängert hatten. Wir haben mitgezählt: Nach 52 Läufen war die Übung endlich vorbei. Abends im Hotelzimmer wollte Karsten schon die Koffer packen: „Ich fahr’ nach Hause, ich mach’ das nicht mehr mit, mir tut alles weh!“ Ich konnte ihn dann doch noch zum Bleiben überreden.

Führte so ein hartes Training nicht dazu, dass die Mannschaft irgendwann rebellierte?
Schnoor: Nein, denn gerade in der zweiten Hälfte der Hinrunde hatten Magaths Methoden ja Erfolg gehabt. Und wer Erfolg im Fußball hat, hat immer recht. Die Schinderei hat eher dazu geführt, dass wir als Mannschaft noch enger zusammengewachsen sind. Wenn wir diesen Teamgeist nicht gehabt hätten, wären wir sang- und klanglos abgestiegen.

»Heribert Bruchhagen hat mich zum neuen Busfahrer der Mannschaft gemacht, ein Job, der eher durch
Zufall entstanden ist.«

Jürgen Ahlert

Jürgen „Bussi“ Ahlert hat viele Anekdoten parat. Manche sind aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sagt er augenzwinkernd.

Welche Maßnahmen haben diesen Zusammenhalt damals noch gefördert?
Ahlert: Ich meine, es war Jörg Albertz, der jeden Dienstag nach dem Training den bayerischen Abend mit Weißwurst und Weißbier einführte. Mitte der Neunziger war unser Trainingsgelände noch in Norderstedt, im dortigen Herold-Center trafen sich die Spieler beim Italiener oder gingen gemeinsam Espresso trinken beim Eisladen. Die Besucherinnen und Besucher damals hat das gar nicht beeindruckt. Ab und zu hat mal einer nach einem Autogramm gefragt, aber ansonsten wurden die in Ruhe gelassen. Heute würden jede Pizza und jeder Cappuccino vermutlich bei Instagram landen.

Im Januar 1996 landet der HSV erstmals im Finale des Hallen-Masters. Hallenfußball ist damals noch eine große Sache in Deutschland, 11.000 Zuschauerinnen und Zuschauerverfolgen in der Westfalenhalle, wie es Stefan Schnoor, Andreas Fischer, Stéphane Henchoz und Co. bis ins Endspiel gegen 1860 München schaffen. Das 3:6 gegen die „Löwen“ verhindert den Gewinn des einzigen Titels der Saison. Die Rückrunde beginnt am 11. Februar 1996 mit einem Heimspiel im eiskalten Volksparkstadion gegen den FC Hollywood aus München. Vor dem Spiel präsentieren Status Quo ihren neuen Hit „Fun, Fun, Fun“. Weniger Spaß macht den 57.000 Zuschauerinnen und Zuschauer der Spielverlauf: Nach 85 Minuten steht es 1:0 für die Bayern. Dann gelingt dem erst 22-jährigen André Breitenreiter der Ausgleich, ehe der gebürtige Dresdener Uwe Jähnig kurz vor Schluss das wichtigste Bundesligator seiner Karriere schießt. 2:1 gegen die Bayern, Spiel gedreht in den letzten fünf Minuten der Partie. Der HSV klettert zwischenzeitlich auf Rang vier. Die Methode Medizinball, sie scheint weiter zu funktionieren.

Schnoor: Dann legte der Rekordwinter alles lahm, drei Wochen lang konnte kein Bundesligaspiel stattfinden.

Ahlert: Stattdessen flogen wir nach Málaga, um dort gegen Real Madrid ein Freundschaftsspiel zu bestreiten. Am Montag und am Dienstag wurde jeweils dreimal trainiert, am Mittwoch vor dem Spiel noch zweimal …

Schnoor: Real spielte in Bestbesetzung mit Fernando Hierro, Freddy Rincón, Luis Enrique, Guti, Iván Zamorano. Nach vier Minuten stand es bereits 1:0 für das weiße Ballett, wir hatten nicht den Hauch einer Chance. Die haben uns vorgeführt nach allen Regeln der Kunst. Nach 15 Minuten sind wir zu unseren Gegenspielern: „Jungs, wenn ihr nicht gleich anfangt, das Tempo rauszunehmen oder mit dem falschen Fuß zu spielen, müssen wir euch leider wehtun, so geht das nicht weiter!“ Also spielten die Säcke tatsächlich mit dem schwachen Fuß und machten uns trotzdem weiter fertig. Wir verloren mit 0:3, im ganzen Spiel war ich vielleicht dreimal an den Ball gekommen, hatte aber gefühlt 25 Kilometer auf dem Tacho. Kurz vor Schluss hatten wir eine Ecke – das war der einzige Schuss aufs Tor. Nach dem Spiel sagte Felix zu uns: „Männer, das ist eine Qualität, die ihr nie haben werdet.“ Schönen Dank auch. Von da an ging es bergab. Von den nächsten zehn Spielen gewannen wir nur zwei, die Luft war raus.

»Real spielte in Bestbesetzung mit Fernando Hierro, Freddy Rincón, Luis Enrique, Guti, Iván Zamorano.«

Stefan Schnoor

Warum?
Schnoor: Das ist nur menschlich. Bei solchen Trainingsmethoden wird es extrem schwer, wenn der Erfolg ausbleibt. Irgendwann denkt man sich als Mannschaft, dass der Coach doch erkennen muss, dass er die Zügel wieder etwas lockern muss. Doch bei Felix hieß es nach Niederlagen, dass wir zu wenig gelaufen seien was nicht stimmte. Da fehlte es einfach an der nötigen spielerischen Qualität.

Ahlert: Ein Felix Magath lässt sich davon nicht abbringen, der geht eisern seinen Weg. Er ist in dieser Hinsicht sicherlich von früheren Trainern wie Ernst Happel und ganz besonders Branko Zebec beeinflusst worden. Wenn mir heute ein ehemaliger Spieler wie Peter Nogly erzählt, wie damals trainiert wurde, dann stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Schnoor: Außerdem hatte Felix damit ja auch Erfolg, siehe seine späteren Meisterschaften mit den Bayern und Wolfsburg. Warum sollte er also mit sich reden lassen? Sein Wort war Gesetz und fertig. Ich habe das in dieser Spielzeit am eigenen Leib erfahren müssen, als er mich nach einer Trainingseinheit in sein Büro bat, dort erst mal geschlagene drei Minuten in seiner Teetasse rührte und mich dann fragte: „Und, Stefan, wie geht’s?“ Ich antwortete: „Na ja, ganz gut. Nur ein wenig dicke Beine, aber sonst alles okay.“ „Dicke Beine?“, sagte er. „Dann machst du wohl besser mal 14 Tage Pause.“ Zwei Wochen lang stand ich nicht im Kader, dann holte er mich wieder in sein Büro. „Und, wie geht’s?“, fragte er. Ich sagte: „Alles in Ordnung, ich bin topfit!“ Seine Antwort: „Na, siehste Junge, geht doch. Morgen spielst du von Anfang an.“ So etwas wie Schwäche zeigen gab es bei ihm einfach nicht.

Die vielleicht kurioseste Szene der Saison ereignet sich am 17. April 1996 beim Auswärtsspiel gegen Hansa Rostock. Nach siebzig Minuten steht es 2:0 für die Gastgeber, weil Felix Magath die Offensivspieler ausgegangen sind und der DFB eine entsprechende Anfrage für die Freigabe von weiteren Amateurspielern abgeschmettert hat, nimmt er zwanzig Minuten vor dem Schlusspfiff Daniel Stendel vom Platz, ersetzt diesen durch Ersatztorwart Holger Hiemann und schickt Stammkeeper Richard Golz in die Sturmspitze. Gemeinsam mit Karsten Bäron bildet Golz (1,98 Meter) das größte Offensivduo der Bundesligageschichte. Zusammen messen die beiden stolze 3,95 Meter. Am Ergebnis ändert das trotzdem nichts. Golz gibt nach der Partie zu Protokoll: „Vielleicht war es ein bisschen zu spät. Ich war erst richtig auf Touren, als das Spiel zu Ende war.“

»Uwe Seeler und der Vorstand trugen Tabletts mit Bier und Champagner in die Kabine.«

Jürgen Ahlert

Ahlert: Wir hatten gar kein passendes Trikot für den Langen! Ich habe dann letztlich in aller Eile mit etwas Tape ein XXL-Leibchen so zurechtgeklebt, dass eine „1“ zu erkennen war und wir mit Edding „GOLZ“ darunterschreiben konnten. Meine Theorie ist, dass Felix wütend auf den DFB war, weil der ihm nicht die Ausnahmeregelung freigegeben hatte, und er sie mit dieser Aktion vorführen wollte.

Durch ein 1:1 gegen den späteren Meister aus Dortmund am 30. Spieltag rutscht der HSV auf Platz neun in der Tabelle ab, drei Punkte entfernt von Hansa Rostock auf Platz fünf. Durch zwei Siege gegen Borussia Mönchengladbach und den VfB Stuttgart, sowie ein 1:1-Unentschieden im Derby gegen St. Pauli steht die Mannschaft vor dem letzten Spieltag auf Rang sieben, zwei Punkte von der Qualifikation für Europa entfernt. Erst zu Beginn dieser Spielzeit ist die neue Drei-Punkte-Regel in Kraft getreten. Damit kämpfen am 34. Spieltag Hansa Rostock, der Karlsruher SC und der HSV um Tabellenplatz fünf, wobei die Hamburger die schlechtesten Karten haben. Rostock spielt zu Hause gegen den abstiegsbedrohten 1. FC Köln, der KSC im Derby beim VfB Stuttgart. Der HSV tritt bei Eintracht Frankfurt an, das zu diesem Zeitpunkt bereits als Absteiger feststeht.

Schnoor: Eine geradezu unmögliche Konstellation. Auf zwei Plätzen musste für uns gespielt werden, wir wiederum mussten entsprechend hoch gegen Frankfurt gewinnen. Wir hatten also nichts zu verlieren und spielten deshalb voll auf Angriff. Zur Halbzeit führte Stuttgart gegen den KSC, in Rostock stand es noch 0:0.

Vor lediglich 27.000 Zuschauerinnen und Zuschauer im halb gefüllten Wald­stadion geht der HSV früh mit 1:0 durch ein Tor von Karsten Bäron in Führung, nach 66 Minuten gelingt Frankfurts Matthias Hagner mit tatkräftiger Unterstützung von Andreas Fischer und Richard Golz der Ausgleich. Zehn Minuten später zeigt Schiedsrichter Jürgen Jansen Eintracht-Spieler Kachaber Zchadadse für ein gelbwürdiges Foul die Rote Karte. Kurz danach flankt Bernd Hollerbach in den Strafraum und findet Bäron, der zum 2:1 einköpft. Gleich im Gegenzug ist es erneut Hollerbach, der Hasan Salihamidžić bedient. Der erst 19-jährige Bosnier, von Felix Magath gerade vor wenigen Wochen in die erste Mannschaft befördert, schiebt cool ein. Das 3:1 ist tatsächlich das erste Bundesligator seiner Karriere. Drei Minuten vor dem Abpfiff schießt „Brazzo“ sogar noch sein zweites Tor. Der Hamburger SV gewinnt mit 4:1 gegen Eintracht Frankfurt, alle Blicke gehen jetzt zur Anzeigetafel im Waldstadion, wo die Ergebnisse dieses letzten Spieltags eingeblendet sind. Dann ist es amtlich: Rostock und Karlsruhe verlieren, der HSV zieht vorbei auf Platz fünf und wird in der kommenden Saison im Uefa-Cup vertreten sein. Es ist der größte Vereinserfolg seit fünf Jahren. In der Frankfurter Gästekabine gibt es jetzt kein Halten mehr.

Ahlert: Das war eine Sensation, mit der wir nicht mehr gerechnet hatten. Uwe Seeler und der Vorstand trugen Tabletts mit Bier und Champagner in die Kabine, kurz darauf flog eine Person in Anzug und Krawatte ins Entmüdungsbecken.

Schnoor: Die Party war gerade gestartet, da stellte sich Felix Magath hin und sagte: „Männer, genießt diesen Abend. Es geht schneller als ihr denkt, dann mach ich euch wieder fertig.“ Tolle Gratulation. Zum Dank schmissen wir ihn gemeinschaftlich ins Wasser.

Stefan Schnoor (links) und Jürgen Ahlert haben sich den gesamten Abend über viel zu erzählen.

Wie ging dieser Tag weiter?
Schnoor: Wir flogen noch am Abend von Frankfurt zurück nach Hamburg, in der 747 war die Bordbar kurz nach dem Start bereits leer getrunken. Alle feierten, bis auf Karsten Bäron. Der vertrug keinen Alkohol und musste von Hermann Rieger versorgt werden. In Hamburg wurden wir von ein paar Tausend Fans empfangen, mit dem Linienbus ging es in die Innenstadt und von dort in Die Insel. Morgens um halb sieben sind wir da rausgetaumelt und mit Taxen direkt zum Trainingsplatz nach Norderstedt. Alle in unseren Ausgehanzügen, wir stanken wie die Iltisse. Magath hatte tatsächlich um 9 Uhr ein Training angesetzt, natürlich gingen wir von einem leichten Auslaufprogramm aus. Stattdessen ließ er uns zweimal 45 Minuten gegeneinander spielen. Auf dem Großfeld. Es dauerte keine zehn Minuten, da kotzten die ersten in die Büsche. Danach ging es endlich in den Urlaub.

»Ivan wurde bei den Mannschaftsabenden zur Legende, weil er sich seinen Wodka nicht im Glas, sondern gleich in der Flasche bringen ließ.«

Stefan Schnoor

Wenn sie heute an diese Saison und die besonderen Charaktere der damaligen Zeit zurückdenken, welche Geschichten fallen ihnen dann noch ein?
Ahlert: Ich muss an Hermann Rieger denken, für mich einer der Titanen der Klubgeschichte. Der war mit seiner unnachahmlichen Art und seiner guten Laune ganz entscheidend für die Atmosphäre innerhalb der Mannschaft. Wenn das Training mal wieder knüppelhart war, dann rief er fröhlich: „Ist der Berg auch noch so steil, a bisserl was geht allerweil!“ Da mussten dann selbst die lachen, die eben noch den Berg mit Medizinbällen bezwungen hatten.

Schnoor: Uns Spielern reichte er dann seine Schnupftabakdose und sagte: „Burschi, a bisserl Schnupftabak, dann geht das schon!“

Ahlert: Unzählige Male sind wir gemeinsam im Bus aus dem Süden Richtung Hamburg gefahren, und jedes Mal, wenn wir die Harburger Berge hinter uns gelassen haben und man in der Ferne den Hamburger Hafen sehen konnte, rief mir Hermann zu: „Burschi, das Tor zur Welt hat uns wieder!“ Nur einmal nicht, da hat er den Moment verschlafen.

Schnoor: Ich erinnere mich an unsere osteuropäische Fraktion um Valdas Ivanauskas und Yordan Letchkov. Ivan wurde bei den Mannschaftsabenden zur Legende, weil er sich seinen Wodka nicht im Glas, sondern gleich in der Flasche bringen ließ. Zwei leere Pullen an solchen Abenden waren keine Seltenheit. Yordan wiederum war ein Autonarr, der eines schönen Tages mit einem roten Opel Calibra 2.0i 16 V vorfuhr, den er mit einem riesigen Heckspoiler und monströsen Breitreifen mit Leichtmetallfelgen getunt hatte. Eine unglaubliche Karre. Einige Tage später tauchte er mit dem Wagen unseres damaligen Sponsors Hyundai auf. „Letsche“, riefen wir, „was ist denn mit deinem Calibra passiert?“ „Männer, das glaubt ihr nicht“, antwortete er. Irgendwer hatte dem armen Mann das Auto aufgebockt und die hübschen Reifen gestohlen.