Lange Haare, Disco und Titel
Unser HSV in den 1970er-Jahren
Die 1970er-Jahre werden für den HSV die Jahre, in denen er sich vom Klub der Seelers und Dörfels zu einem internationalen, modernen Topklub transformiert. Zunächst kommen junge, hungrige Spieler, dann ein Präsident beziehungsweise Manager mit Ideen und Mut. Nationale und internationale Topstars auf und neben dem Platz werden den blau-weiß-schwarzen Weg ebnen zu Europas Elitetruppe der ausgehenden 1970er- und schließlich der beginnenden 1980er-Jahre.
Der Fußball zu Beginn der 1970er-Jahre versprüht noch den Charme des Unperfekten, des Nahbaren. Ohne die allumfassende Beobachtung der heutigen Zeit durch die sozialen Medien können die Spieler neben dem Platz sein, was man ihnen heute ebenso wünschen würde: keine in Nachwuchsleistungszentren gezüchteten Fußballmaschinen, sondern ganz einfach junge Menschen mit – dem Zeitgeist geschuldet – langen Haaren und so manchen Flusen im Kopf …
1969/1970
Trainer im Bordell verhaftet
Am 17. März 1970 spielt der HSV gegen Borussia Dortmund zu Hause. Klaus Zaczyk (immerhin der HSV-Spieler mit 254 und damit den neuntmeisten Bundesliga-Spielen, dazu 47-facher Torschütze) erinnert sich an den Vorabend und eine Geschichte, wie sie wohl nur Anfang der Siebziger möglich gewesen ist: „Zusammen mit einigen BVB-Spielern sind wir mit meinem Wagen zur Reeperbahn zu den St.-Pauli-Nachrichten gefahren. Und einer von den Borussen meinte dann plötzlich: „Lasst uns doch mal drucken: ‚BVB-Trainer Lindemann im Bordell verhaftet!‘“ Am Spieltag beim Frühstück haben sie die Zeitung dann überall im Mannschaftshotel am Hauptbahnhof ausgelegt. Und dem Lindemann haben sie dann zugerufen: „Trainer, haben Sie schon gelesen? Im Westen geht die Zeitung weg wie warme Semmeln.“ Der Lindemann hat dann gerufen: „Ich brauche einen Anwalt!“ Da war solch eine Unruhe bei den Dortmundern, dass wir nach 1:3-Rückstand noch mit 4:3 gewonnen haben.“
Hat ordentlich einstecken müssen: Uwe Seeler beim Spiel gegen Rot-Weiß Oberhausen.
Foto: Witters
Willi Schulz, unser HSV-Vizeweltmeister von 1966, hat mal gesagt: „Manchmal wird man ja klüger und einfühlsamer durch Niederlagen als durch Siege.“ Da mag er recht haben. Wir HSVerinnen und HSVer der Neuzeit müssten demnach derart klug und einfühlsam sein, dass wir uns fragen, warum wir vor lauter gelernter Empathie nicht längst den Friedensnobelpreis verliehen bekommen haben. Was haben wir schon für Hohn, Spott und Niederlagen ertragen müssen! Allein die sieben Jahre zweite Liga, die hundert Gegentore in München … Da war früher – in den goldenen Siebzigerjahren – sicher alles besser, oder?
1970/1971
Seltsame Songs, seltsame Dinge
Blicken wir auf den Anfang dieses Jahrzehnts, so fällt die Großmutter aller Pleiten auf: Der HSV verliert beim Tabellenletzten und späteren Absteiger RW Oberhausen am 26. September 1970 mit 1:8. Schon zur Pause steht es 4:1 für RWO, dessen Fans laut Journalist und Autor Carsten Germann zum damaligen Schlager „Na Na Hey Hey Kiss Him Goodbye“ (früher in der Westkurve und heute auf der Nordtribüne besser bekannt als – nun ja – „Shananana, nananana – hey, hey, hey – HSV!“) der Band Steam sangen: „Hallo Hamburg, hallo Hamburg – zwei Punkte? Goodbye!“ Allein das genügt ja schon, sich verdrossen auf den Rückweg in die Hansestadt zu machen. Doch auch nach der Pause ist es ein munteres Scheibenschießen, bei dem besonders ein Hamburger eine schlechte Figur macht: Heinz Bonn. Der junge Mann ist als Raubein verschrien, wogegen er sich entschieden wehrt: „Ich bin kein Ruppsack!“ Bonn („Ich bin kerngesund!“) wird nach langer Verletzungspause in Oberhausen eingesetzt, ist aber offenbar noch derart neben der Spur, dass er sogar eigene Spieler umgrätschen sollte. Uwe Seeler mag später nur ungern an das Spiel in Oberhausen denken. Nur, dass Heinz Bonn „seltsame Dinge“ gemacht hat, das erinnert er sich schon noch.
Der HSV bereitet sich darauf vor, dass die Zeit eines Uwe Seelers, eines Willi Schulz, eines Charly Dörfels langsam zu Ende geht. Aus Lübeck kommt Peter Nogly, dank des Talentsuchers Gerhard Heid, seines Zeichens Jugendleiter beim TuS Altrip, verpflichtet man zur neuen Saison zudem einen ganzen Talentschuppen, der den altehrwürdigen HSV gehörig aufmischen sollte.
Foto: Axel Formeseyn (privat)
Axel Formeseyn war mal dies und das im und rund um den HSV und hat in Sachen „Blau-Weiß-Schwarz“ viele Kolumnen, ein paar Bücher („Voll die Latte“, „Unser HSV“), die offizielle HSV-„Festschrift“ zum 125-jährigen Vereinsjubiläum und allerhand anderen Quatsch veröffentlicht. Heute ist er einfach nur noch Fan und – wenn er dazu kommt – macht er einen Podcast: „Unser täglich HSV“.
1971/1972
FSK 18 – Sündenpfuhl Hamburg
Drei Spieler, die die Siebzigerjahre des Hamburger SV prägen sollten, schlagen aus der Provinz in Hamburg auf. Verteidiger Manfred Kaltz (18) kommt vom TuS Altrip, Torhüter Rudi Kargus (18) von Wormatia Worms, Mittelfeldmann Caspar Memering (18) von Werder Bre… Nun, da hatte er eigentlich schon zugesagt, aber irgendwie hatte es Heid doch noch geschafft, das Talent aus dem Emsland an die Elbe zu locken. HSV-Schatzmeister Kallmann erinnerte sich später daran, dass besonders die Eltern der Jungs überzeugt werden wollten: „Sie wollten sich doch lieber überzeugen, dass ihre Sprösslinge nicht in einen Sündenpfuhl geraten waren. Hamburg wird ja in der Provinz sehr schnell an der Reeperbahn gemessen …“ Gerhard Heid selbst erlebt den HSV-Höhenflug seiner Youngster nicht mehr. Er erliegt im März 1972 einem Herzinfarkt, was für den Verein einen unersetzlichen Verlust bedeutet. Kaum auszumalen, welche Talente sonst noch den Weg zum HSV gefunden hätten.
Keine große Hilfe
Wie auch immer. Der gesamte Klub und die Jungs müssen nun allein zurechtkommen. Kaltz, Kargus und Memering kommen in Gastfamilien unter. Memering und Kargus zum Beispiel wohnen erst bei Keeper Arkoc Öczan, später bei Sturmchef Bubi Hönig. Der erinnert sich später daran, dass besonders Kargus im Haushalt keine große Hilfe war: „So flink seine Hände auch sonst waren, dafür waren sie nicht zu gebrauchen.“ Ansonsten legte man Wert darauf, dass die jungen Spieler parallel zum Fußball auch eine Lehre absolvierten. Alle drei arbeiteten zum Beispiel im Kaufhof. Manfred Kaltz erinnert sich später: „So richtig mein Ding war das aber nicht. Wir haben da halt gejobbt. In der Angelabteilung. Ich hatte keine Ahnung vom Angeln. Und dann standen wir da so rum. Und als jemand kam und was von mir wollte, da habe ich halt gesagt: ‚Nee, wir arbeiten hier nicht. Wir kaufen auch nur ein.‘“
Auf dem Platz Spieler, daneben Soldat: Ein Schnappschuss von Manfred Kaltz (links) und Caspar Memering in Uniform.
Foto: Witters
HSV gegen HSV? Bremen vergisst seine Auswärtstrikots und muss mit HSV-Leibchen auflaufen.
Foto: Witters
Heute gibt es zu jeder Saison ja drei neue Trikots, dazu gern das Sondertrikot zum Hafengeburtstag, zum Fischmarkt-Jubiläum, zu dütt un datt. Hauptsache, der Verein kann abcashen. Die Raute pur? Tradition ist da eher Nebensache. Früher war natürlich alles anders und unprofessioneller und besser. Oder? Nun, zumindest unser Nordrivale mit dem Stadion, um das selbst die Weser einen Bogen macht, wird das in einem Fall gewiss etwas anders sehen.
1971/1972
Die einzig wahre norddeutsche Fußballraute
Werder Bremen – lebenslang grün-weiß? Als ob! Vor der Saison 1971/1972 fiel der Klub nämlich der irren Idee anheim, plötzlich nicht mehr in Grün-Weiß, sondern – ob der Stadtfarben Bremens – plötzlich in Rot-Weiß gestreift aufzulaufen. Das sollte sich spätestens am 27. November 1971 rächen. An jenem Abend wurde es Schiedsrichter Eschweiler („Wollte Werder Ärger haben? Wollten sie ja wohl nicht!“) im Volksparkstadion irgendwann zu bunt beziehungsweise irgendwie eher zu rot-weiß. Also verlangte er vom Gastteam beim Pausenstand von 0:0 im Nordderby, es möge sich doch bitte die Ausweichtracht anlegen. Man müsse schließlich an die Zuschauenden an den Schwarz-Weiß-TV-Geräten denken. Klitzekleines Problem: Werder hatte keinen zweiten Trikotsatz dabei.
Wie gut, dass der HSV ein derart guter Gastgeber war, dass er – logo, nicht selbst die eigenen Ersatztrikots überstreifte, sondern – dem Gast einen blauen HSV-Trikotsatz für die zweiten 45 Minuten lieh. Da ist sich jeder ja doch selbst der Nächste. Der HSV rot-weiß siegte schließlich dank zweier Tore von Volkert und Zaczyk gegen HSV blau-weiß mit 2:1. Und er setzte sich in der Tabelle auf Platz vier fest. Am Ende der Saison wird man Zehnter. Nun. Immerhin einen Platz und genau die zwei Punkte besser als Konkurrent Werder. Dem blieb zumindest der Trost, wenigstens einmal mit einer vernünftigen Raute auf der Brust aufgelaufen zu sein.
Auf seine Fans kann sich der HSV seit jeher verlassen. Es hat Tradition, den Klub der Stadt zu unterstützen. Das haben unsere Urgroßeltern getan, unsere Großeltern, unsere Eltern. Wie heißt es so schön, zumindest ungefähr: diese bedingungslose Leidenschaft, die sogar zweite Liga und alles andere übersteht. Mittlerweile wird ja nicht einmal mehr gepfiffen, wenn die Mannschaft nur so halb gut spielt und ein Derby verliert. Der Blick in den Rückspiegel lässt erahnen, dass das früher ein bisschen anders war.
Damals am Rothenbaum suchten Zuschauer auch Platz auf Ästen, um einem HSV-Spiel zu folgen.
Foto: Witters
1971/1972
Zu tief in die Flaschen geschaut
Die Heimfans des HSV werden zu Beginn der 1970er-Jahre zunehmend unruhig. In den ausgehenden 1960er-Jahren klopft der Klub zwar leise an die Tür zu den oberen Tabellenrängen, doch die bleibt bis auf Weiteres verschlossen, die letzte Uwe-Seeler-Saison klemmt gar gewaltig. Die Fans werden nervös und Stürmer Bubi Hönig beklagt sich: „Im Volksparkstadion ist immer gleich der Deubel los, wenn es mal nicht läuft.“ Auswärts spielt der HSV befreiter, was Verteidiger Helmut Sandmann bestätigt: „Auswärts kann ich seelenruhig den Ball zum Torwart zurück oder meinen Mitspielern einen Querpass zuspielen. Da regt sich niemand auf. Wehe aber, wenn ich das bei uns in Hamburg mache! Dann gibt es sofort Pfiffe!“ Selbst Fast-Fußballrentner Uwe Seeler wird zuweilen ausgepfiffen, was wiederum die Fachjournaille („Sport-Kurier“) in Aufruhr versetzt und mutmaßen lässt: „Uns Uwe auspfeifen? Die Fans hatten wohl zu tief in die Flaschen geschaut!“
Ohne Seeler, Dörfel, Öczan und Kurbjuhn gerät der jüngste HSV aller Zeiten in der zehnten Bundesliga-Saison in derart große Abstiegsgefahr, dass Uns Uwe sogar beim Besuch der Quizshow „Dalli Dalli“ von Showmaster Hans Rosenthal darauf angesprochen wird. Uwe rät via TV: „Die Mannschaft muss dran glauben!“ Das Publikum applaudiert im Fernsehstudio aufmunternd, interessiert sich aber irgendwie deutlich mehr für die Frage, ob die Seelers nach drei Töchtern nun, wo der Altstar ja mehr Zeit für die weitere Familienplanung habe, noch „einen kleinen Uwe“ in die Welt setzen wolle. Das Publikum ist der Meinung, der Gag war „Spitze!“. Der HSV dagegen kämpft lange gegen den erstmaligen Abstieg aus der Bundesliga.
»Uns Uwe auspfeifen? Die Fans hatten wohl zu tief in die Flaschen geschaut.«
1972/1973
Mit zehn Bier und knallharter Discomusik zum Klassenerhalt
Bis zum 20. Januar 1973 ist der HSV Letzter und auf der Bundesliga-Intensivstation. Die Wiederbelebungsmaßnahme schlechthin erfolgt schließlich durch Eintracht Frankfurts Sturmtank Horst Heese, der nicht nur mit seinen sechs Toren, sondern vor allem mit seiner rustikalen Art (selbst die Zimmer seiner Kinder sollen ganz in Eiche eingerichtet sein) dem HSV aus dem tiefsten Schlamassel hilft, wird sich später erinnern: „Vom Sportlichen war das ja eine tolle Mannschaft, wenn ich sehe, was da heute für Flaschen rumspringen …“ Wobei wir an dieser Stelle lieber verschweigen, in welchem Jahr Heese diese Aussage getroffen hat. Wie auch immer. Der Neuzugang erkannte schnell, dass jede erfolgreiche Mannschaft einen funktionierenden Teamgeist braucht. So gründete er in der Kneipe von Ex-Keeper Öczan den „After Seven Club“. Heese erinnerte sich später: „Einstand waren zehn Gläser Pils, dann durfte man Mitglied werden. Und am Dienstag danach war immer Konditionstraining. Wunderbar!“ Damit war es nicht getan. Vor den Spielen wurden im Bus auf dem Weg vom Mannschaftshotel in Quickborn nach Hamburg-Bahrenfeld – auf Heeses Geheiß – ab sofort die fünf besten Hits aus Amerika gespielt. Im Stadion ging die Mannschaft dann auf den Stadionsprecher zu, ab sofort „keine Walzermusik mehr“ zu spielen, wie sich Klaus Zaczyk erinnert. „Schon beim Warmlaufen wurde plötzlich im Stadion knallharte Discomusik gebracht. Das hat uns heiß gemacht!“ Mit Erfolg! Am Ende der Saison wird der HSV relativ souverän die Klasse halten.
Ein Tollhaus, dieser HSV: Fans feierten ausgelassen auf den Tribünen, auch wenn es manchmal nichts zu feiern gab.
Foto: Witters
Immer diese HSV-Lümmel!
Und nicht nur das, der HSV wird sogar noch den – nun ja, eigentlich relativ belanglosen – Ligapokal gewinnen. Aber nun gut, immerhin der erste Titel seit Gründung der Bundesliga. Die HSV-Fans quittieren den Erfolg mit einem Platzsturm, der von den Spielern allerdings etwas anders wahrgenommen wird als der im vergangenen Sommer 2025 nach dem Bundesliga-Aufstieg. Willi Schulz zum Beispiel sieht sich dazu veranlasst, mit einem Spurt das Spielfeld Richtung Katakomben zu verlassen: „Man darf sich im Spiel nie ganz verausgaben, man muss immer noch Kraft genug haben, um sich mit einem Spurt in die Kabine zu retten.“ Die Fans feiern derweil den Ligapokal derart ausufernd, dass Stadionsprecher Heinz Schneider irgendwann über die Lautsprecher fleht: „Los! Geht jetzt endlich nach Hause! Verschwindet, ihr Lümmel, ihr habt uns die ganze Siegerehrung kaputt gemacht!“
Jaja, der HSV war schon zu Beginn der 1970er als Klub bekannt, der zahlreiche Fans hinter sich wusste. Einigen war es allerdings nicht genug, nur zu den Heimspielen in den Volkspark zu pilgern.
1972
Der Fanclub fährt auswärts!
Michael Burzlaff, Walter Rehmer und Alfred Grosse erinnern sich in launiger Runde an die Anfänge ihres Fanclubs Die Rothosen: „Um mit der Bahn günstig reisen zu können, musstest du mindestens fünfzehn Leute haben, damit du fünfzig Prozent Ermäßigung kriegtest. Die musstest du erst mal zusammenbekommen! So ist unser Fanclub entstanden, damals der einzige Fanclub.“ In den Vereinsnachrichten, der „HSV-Post“, wurde entsprechend angekündigt: „Der Fan-Club fährt auswärts!“ Und jeder wusste Bescheid, wer gemeint war. Schnell wurden Kontakte geknüpft, die noch heute halten: Im März 1974 kamen die Glasgow Rangers zu einem Freundschaftsspiel nach Hamburg. Deren Fans brachten die ersten Schals mit, die vom HSV-Anhang gern adaptiert wurden. Der Beginn der Fan-Kultur, wie wir sie heute kennen – und einer langen, internationalen Fan-Freundschaft.
1973/1974
Erste blau-weiß-schwarze Invasionen
Nun bewegte der HSV national auch auswärts die ersten Fan-Massen. Erst wurden zum Pokal-Viertelfinale in Wattenscheid (der HSV siegte nach Verlängerung mit 1:0) zu damaligen Zeiten unglaubliche 25 Busse eingesetzt. Auf Youtube kann, wer geduldig sucht, noch heute einen tollen Mitschnitt von früher finden und bestaunen, wie Tausende HSV-Fans den Einzug ins Halbfinale mit einem veritablen Platzsturm feiern. Später, beim Pokalfinale (das wegen der Fußball-WM erst am 17. August stattfindet und leider verloren wird) war das Düsseldorfer Rheinstadion ebenfalls ganz in Blau-Weiß-Schwarz gehüllt.
Im DFB-Pokal feiert der HSV zwar einige Festtage, musste aber auch eine Niederlage einstecken, die noch Jahrzehnte später in jedem Rückblick der größten Pokalsensationen erwähnt werden wird.
»Aufnahmeritual im After Seven Club: Einstand waren zehn Gläser Pils, dann durfte man Mitglied werden.«
Paparazzi-Alarm: Torwart Rudi Kargus verweist einen Fan des Spielfeldes, der ihn im Strafraum während des Spiels fotografiert.
Foto: Imago
1974/1975
Was sollen bloß die Leute denken?!
Der Vize-Pokalsieger HSV verliert Ende Oktober 1974 beim VfB Eppingen in der zweiten Runde mit 2:1. Eva Björnmose, die Frau von HSV-Star Ole, traut sich anschließend kaum mehr aus dem Haus: „Nein, nein, nein, ich mag nicht zum Einkaufen gehen. Das Ganze ist doch eine Schande. Was sollen bloß die Leute denken?!“ Der HSV rehabilitiert sich immerhin in den anderen Wettbewerben. In der Bundesliga wird er Vierter, im Uefa-Cup (so heißt der Messe-Cup seit der Saison 1971/1972) kommt man sogar bis ins Viertelfinale, wo gegen Juventus Turin Schluss ist – und man bis auf Weiteres eine Rechnung offen haben wird.
1975/1976
Auch Elfmeter kann man halten!
Vollends wiedergutgemacht wird die Schlappe von Eppingen dann in der folgenden Saison. Mit 2:0 gegen den 1. FC Kaiserslautern holt der HSV unter Trainer Kuno Klötzer 1976 in Frankfurt den Pokal! Besonders bemerkenswert ist dabei, dass der HSV im Halbfinale das Wiederholungsspiel (erst ab den frühen 1990er-Jahren gibt es nach der Nachspielzeit ein Elfmeterschießen) in München in einer Wasserschlacht vor gerade einmal 7000 Fans mit 1:0 gewinnt. Das goldene Tor fällt in der 90. Minute, kurz nachdem Rudi Kargus einen Elfmeter von Gerd Müller gehalten hat. Der HSV-Keeper weiß nur zu gut: „Auch Elfmeter kann man halten!“ Im gleichnamigen, wirklich köstlichen Hörspiel zählt der junge Manfred (so hießen Jungen zu der Zeit noch) Dormregen auf seinen „Freund, den National-Torwart“, der ihm dabei helfen soll, seinen Vater, Dr. Dormregen, davon zu überzeugen, doch bitte an einem Fußballturnier teilnehmen zu dürfen. Der Vater, eigentlich kein ausgewiesener Freund des Ballsports, lässt sich schließlich von Rudi Kargus’ emotionalen Erzählungen über den wahren Geist des Fußballsports überzeugen und muss zugeben: „1:0 für Sie, Herr Kargus!“
1973 wird Dr. Peter Krohn HSV-Präsident. Er, dessen Vater Hans bereits für den HSV gespielt und der selbst seit Kriegsende 1945 kaum ein HSV-Heimspiel verpasst hat, wird den HSV vom Mief des eher hüftsteifen Traditionsvereins befreien und zu einem ganz heißen Eisen und Vorreiter des modernen Fußballs entwickeln. Fragt man sich beim HSV in den Jahren vorher noch, ob die Bundesliga überhaupt finanzierbar ist und woher das Geld kommen soll, wenn nicht aus den Zuschauereinnahmen, so sprudelt der neue Präsi („Die Ideen kommen mir beim Rasieren!“) vor Ambitionen und Mut, seine Ideen in die Tat umzusetzen.
Elfmeter-Töter mit Goldkehlchen: Rudi Kargus.
1976/1977
Pretty und erfolgreich in Pink
Der HSV lockt die Fans zum Saisonstart nunmehr mit Showtrainings zum Rothenbaum. Auf Elefanten wird geritten, um eine Blaskapelle herum gespielt, dazu treten Stars wie Udo Lindenberg oder Mike Krüger auf. Nach Eintracht Braunschweig („Jägermeister“) ist der HSV zudem der zweite Klub, der auf dem Trikot für Schnaps („Campari, was sonst?“) wirbt. Präsident Krohn wirbelt an allen Ecken und lässt die Fans abstimmen, auf welcher Position der HSV Verstärkung nötig hat. Vor allem aber hat Krohn seit jeher ein Faible für überraschende Trikotkreationen. Mit zunehmendem Erfolg der Mannschaft („Im Abstiegskampf hätte ich mich das nicht getraut!“) kann er diese Ideen umsetzen. Der HSV holt den DFB-Pokal 1976 in Hellblau mit weißem Schlagkragen, in Pink (eigentlich eher magentafarben, extra auf das Flutlicht abgestimmt, ganz „Création Pierre Krohn“ eben) siegt man ein Jahr später vor 20.000 HSV-Fans in Amsterdam und holt gegen den RSC Anderlecht den Europapokal der Pokalsieger – was man übrigens (mal wieder eine Idee von Krohn) wie große Künstler nach erfolgreichen Auftritten, wenig dezent und heute urkomisch anzuschauen, in weißen Bademänteln feiern sollte.
Arno Steffenhagen (links) umkurvt seinen Gegenspieler mit den ikonografischen HSV-Lettern auf der Brust.
Foto: Witters
Präsident Peter Krohn gibt den Ton an und macht den HSV mit seinen Ideen zu einer Marke.
Foto: Witters
Es sind drei Farben, Buchstaben …
Bei Europapokalspielen läuft man damals übrigens – da Werbung hier noch nicht erlaubt war – als einzige Mannschaft europaweit mit dem eigenen Vereinsnamen, dem ikonischen Schriftzug „HSV“, auf. Der Präsident und spätere Generalmanager Krohn dazu: „So sahen unsere Gegner auf dem Platz ständig, mit wem sie es zu tun hatten.“ In den folgenden Jahren sollte sich ganz Europa diese drei Buchstaben gut einprägen. 1980 und 1982 wurden erneut Finals erreicht und erst der Europapokalsieg 1983 von Athen sollte schließlich das Ende einer Ära sein, das letzte Spiel, das ohne Werbung auf dem Trikot ausgetragen werden musste (oder durfte). Mit dem Ende des Werbeverbots bei Europapokalspielen endete also irgendwie auch die europäische Erfolgsgeschichte des HSV. Und vielleicht denken so einige andere ebenso wie der Autor gerade etwas verdrossen: Blöder Kommerz, blöder moderner Fußball!
Die Krönung der Krohn-Jahre im HSV war eventuell gar nicht der Europapokal, sondern neben Felix Magath (der übrigens in beiden siegreichen Europacup-Finals traf, was hier nicht unerwähnt bleiben darf) die Verpflichtung des Weltstars Kevin Keegan vom FC Liverpool. Dabei gerät die erste Keegan-Saison zu einem Desaster. Der HSV verliert das Derby gegen den erstmaligen Aufsteiger St. Pauli, Trainer Gutendorf wird entlassen, Krohn kündigt entnervt, Topstar Keegan ist wenig anerkannt und sieht in einem Spiel gar die Rote Karte. Es kommt alles zusammen …
1977/1978
Als Krohn der Große ging und Netzer kam, da sah es böse aus
Eigentlich will Günter Netzer kurz nach Ende seiner aktiven Laufbahn dem HSV im Winter 1977 nur das Konzept einer neuen Stadion- und Vereinszeitschrift präsentieren. Als Netzer Hamburg verlässt, hat er seine Zusage gegeben, den Managerposten zu übernehmen. Er holt für die neue Saison aus Braunschweig Trainer Branko Zebec und sorgt dafür, dass die Rolle Keegans in der Mannschaft gestärkt wird: „Kevin ist der Mittelpunkt des Teams, niemand sonst!“ Netzer kommt sich zu Beginn seiner HSV-Zeit, am Ende der Katastrophensaison 1977/1978, noch vor „wie ein Passagier einer Boeing 747 beim Absturz“, während Keegan im Interview mit einer englischen Zeitschrift mit Augenzwinkern bemerkt: „Unsere Fans waren fast immer volltrunken. Aber das ist, glaube ich, darauf zurückzuführen, dass wir eine fürchterliche Saison hatten. Was wir boten, war manchmal so schlecht, dass es immer noch besser war, sich volllaufen zu lassen.“
Ein Weltstar für Hamburg: Kevin Keegan soll vor allem Fußball spielen, aber das Singen macht ihm auch viel Spaß.
Foto: Witters
1978/1979
Wer wird deutscher Meister? HA-HA-HA-HSV!
Die folgende Saison 1978/1979 gerät dann zu einem Triumphzug. Dank der Fußball-WM in Argentinien hat man satte drei Monate Zeit, die neue Mannschaft (Hrubesch, Hartwig und Wehmeyer verstärken das Team) einzuspielen. Anfang Juni 1979 wird der HSV – sozusagen als Kirsche auf der Torte der erfolgreichen Siebzigerjahre – seinen ersten Bundesliga-Titel feiern. Und ganz Deutschland klingelt es – völlig ironiefrei – in den Ohren: „Wer ist deutscher Meister? HA-HA-HA-HSV!“ Neben der individuellen Klasse einzelner Spieler und der Disziplin, die Trainer Zebec mit zum Teil unfassbar hartem Training der Truppe eingeimpft hat, besticht der neue deutsche Meister durch einen Teamgeist, der seinesgleichen sucht. So ist sich die Truppe nicht zu schade, im Jahrhundertwinter 1979 gemeinsam mit den HSV-Fans das Spielfeld und die Tribünen von Schnee und Eis zu befreien. Nicht die einzige Hürde auf dem Weg zur Meisterschaft, die Fans und Team gemeinsam aus dem Weg räumen. Kevin Keegan wird später, am Ende seiner HSV-Zeit, sagen: „Ich wollte, ich könnte das HSV-Publikum mitnehmen, wohin auch immer ich gehen werde …“ Was von Keegan neben vielen tollen Spielen und Toren und Erinnerungen bleiben wird: die Single „Head over Heels in Love“. Und so ist die Mighty Mouse neben den Beatles der zweite Liverpool-Export, der in Hamburg nicht nur im Herzen der Menschen, sondern auch im Plattenschrank des Autors seinen Platz für immer sicher hat.
Was ein Gassenhauer: Stefan Hallbergs „Wer ist deutscher Meister? HSV!“.