»Der Gesang bleibt unser schärfstes Schwert«
Sie vereinen im besten Fall Tausende Menschen zu einem Massenchor und stacheln Spielerinnen und Spieler auf dem Rasen zu Höchstleistungen an: Gesänge sind eine elementare Zutat jedes Stadionbesuchs. Im Interview erklärt Sendar von den Castaways, wie der Volkspark gesanglich tickt, wie neue Gesänge entstehen – und was der ganz besondere HSV-Style ist.
Wer Livestimmung beim Fußball genießt, tut das vor allem durch die Gesänge. Wie wichtig ist das Singen für euch als Ultras?
Es ist – neben der optischen Unterstützung – für uns der elementarste Anteil, den wir am Spielgeschehen haben. Die Gesänge, die durch das Stadion hallen, bilden eine unsichtbare Verbindung zwischen Tribüne und Rasen, die im besten Fall den nötigen Antrieb zum Sieg bringt. Um ihre Bedeutung einzuordnen, hilft vielleicht ein Blick auf die Tatsache, dass die aktive Fanszene in bestimmten Situationen zwar auf die optische Unterstützung wie das Schwenken von Fahnen oder sogar das Aufhängen von Zaunfahnen verzichtet, aber dennoch weiter singt. Die Reihenfolge ist da für uns recht klar: Wird nicht gesungen, weht auch keine Fahne. Der Gesang bleibt also die Basis unserer Unterstützung und damit in Zeiten des Protestes auch unser schärfstes Schwert.
Wer nicht so tiefe Kenntnisse der Abläufe im Stadion hat, fragt sich: Gibt es so etwas wie eine Setlist für jedes Spiel wie bei einem Konzert?
Nein.
Wie gelingt es dann, dass alle wissen, welche Songs gerade gesungen werden?
Das Anstimmen der Lieder erfolgt durch unseren zentral positionierten Hauptvorsänger. Die weiteren Vorsänger, beispielsweise bei Heimspielen auf den zwei äußeren Podesten, dienen der Motivation der Kurve und der Koordination der breiten Masse.
Und wie schnell und spontan werden Gesänge während eines Spiels angestimmt?
So schnell, wie es das Spiel verlangt.
Stichwort breite Masse: Gibt es einen Moment, in dem ihr die Intensität des Gesangs einer ganzen Arena besonders krass erlebt habt?
Gegen Ulm (beim 6:1-Heimerfolg am 10. Mai 2025, gleichbedeutend mit dem Wiederaufstieg, Anm. d. Red.) erlebten wir im Volkspark eine Mitmachquote, wie sie noch nie da war. Jedes Lied explodierte, und die Zeilen der Nordtribüne wurden vom ganzen Stadion getragen. Spätestens das war der Beweis, dass jeder im Stadion die Texte unserer Lieder kennt und die Melodien dazu erst recht.
Das kollektive Mitsingen ist aber nicht in jedem Spiel so intensiv?
In Augenblicken, in denen es sportlich gut läuft oder es Situationen zum Feiern gibt, neigt der durchschnittliche Stadionbesucher in der Regel dazu, in unsere Gesänge einzusteigen und daran Freude zu empfinden. Es scheint ihnen also etwas zu bedeuten. Warum sich dies gern mal nur auf bestimmte Phasen beschränkt, entzieht sich leider meinem Verständnis. Während sich der Stehplatzbereich der Nordtribüne, als das Herz des Stadions, der Aufgabe angenommen hat, das Feuer der Unterstützung über das gesamte Spiel aufrechtzuerhalten, springt der große Teil des Stadions leider meist erst dann auf den Zug auf, wenn dieser schon Fahrt aufgenommen hat. Besonders der B-Rang der Nordtribüne wird leider von Jahr zu Jahr träger.
Woran könnte das liegen?
Leider fehlt vielen Stadionbesuchern die Verbundenheit zu dem Gesungenen. Die Zeilen „Immer wieder singen wir deine Lieder“ sind für uns mehr als leere Worte, sondern ein Versprechen an den Hamburger Sport-Verein. Bis wir jeden Stadionbesucher davon überzeugt haben, dass bedingungslose, lautstarke Unterstützung viel erfüllender ist als das erfolgsabhängige Konsumieren, wird die Zahl jener, die aktiv mitwirken, weiterhin stark schwanken. Was wir auf dem Weg dorthin unterbinden werden, sind Pfiffe gegen die Mannschaft, sobald wir sportlich mal wieder vor schwierigen Aufgaben stehen. Meist kommen eben diese genau aus den Ecken des Stadions, die sich nur allzu sehr bitten lassen, in die Lieder einzusteigen und die Mannschaft zu unterstützen.
»Die Lieder, die wir singen, stammen aus allen Epochen der Hamburger Fankultur.«
Sendar
Bekannt sind die Lieder aber sehr wohl, sagst du. Gibt es einen Style, den der HSV total exklusiv hat? Etwas, das ihn gesanglich unterscheidet von anderen Kurven?
Die Lieder, die wir singen, stammen aus allen Epochen der Hamburger Fankultur. Wir versuchen hier stets, Altes zu bewahren, aber auch Neues hinzuzufügen. Das charakteristische Alleinstellungsmerkmal als Deutschlands Hafenstadt Nummer eins findet sich leider noch viel zu wenig in unserem Liedgut wieder. Zu wenig Berührungspunkte mit Shanty oder anderen Seemannsliedern gab es in der Vergangenheit, was aber nicht bedeutet, dass man sich dahingehend verschließt.
Um zu versuchen, die Stilistik der Nordtribüne zu beschreiben, bedarf es eines Blicks in die Vergangenheit, in der die damaligen Gruppen, aber vor allem die CFHH (gemeint ist die 2015 aufgelöste Ultras-Gruppierung Chosen Few Hamburg, Anm. d. Red.), größtenteils auf einfaches Liedgut setzten. Massentauglichkeit und Lautstärke waren hier sicherlich die Kernkompetenzen, von denen wir uns zum aktuellen Zeitpunkt aber immer mehr wegentwickeln. Das bedeutet nicht, dass nicht jeder die Texte können soll, und ganz besonders bedeutet das nicht, dass wir nicht laut sein wollen. Aber wenn es bedeutet, dass es eben länger dauert, bis sich der HSVer den Text gemerkt oder die Melodie eingeprägt hat, und wir dafür kurzfristig nicht ganz so laut sind, uns aber langfristig kreativer ausleben können, dann ist das ein Preis, den wir gern zahlen.
Tatsächlich basieren manche Lieder auf Popsongs, manche gibt es bei sehr vielen Clubs, nur mit anderem Text. Habt ihr für die Herkunft eurer Melodien rote Linien?
Das Einzige, wo wir pauschal den Riegel vorschieben, sind jegliche Melodien, die am Ballermann zu finden sind. Die Stumpfheit und die aufgesetzte Partystimmung, die damit suggeriert wird, sind uns für die Nordtribüne einfach zu platt und austauschbar.
»Ideen gibt es immer viele, doch von der Idee bis in die Kurve schaffen es die wenigsten Lieder.«
Sendar
Wie oft kommen neue Lieder hinzu und wie entstehen die?
Die Inspiration für neue Kurvenlieder kann aus allem kommen: aus dem Radio, vom Album des Lieblingskünstlers oder aus den Kurven anderer Vereine. Ideen gibt es immer viele, doch von der Idee bis in die Kurve schaffen es die wenigsten Lieder. Der Prozess ist recht simpel. Zunächst hat jemand eine Idee und teilt sie ein paar Leuten mit, die ebenfalls Interesse an dem Thema haben. Dann werden ein wenig die Köpfe zusammengesteckt, und wenn die Melodie etwas taugt, dann wird meist gemeinsam an ein paar Zeilen gewerkelt, und wenn alle einigermaßen zufrieden sind, wird das Lied beizeiten ausprobiert – meist zunächst im engeren Kreis der aktiven Fanszene oder bei Veranstaltungen abseits des Bundesliga-Geschehens, etwa den Besuchen der Eishockeyabteilung.
Ihr müsst dann doch aber entscheiden, ob die „funktionieren“. Wie viel Geduld und wie viele Versuche gebt ihr dem Stadion?
Ob Lieder funktionieren, sieht man erst, wenn sie funktionieren oder eben nicht. Am Ende ist es immer ein Bauchgefühl, das man hat, wenn man in die Gesichter derjenigen blickt, die die Lieder singen. Zunächst einmal ist wichtig, dass die Identifikation mit dem Lied stattfindet, die Lautstärke kommt von ganz allein. Manche Lieder knallen sofort, andere erst nach Jahren. Heutzutage erheben sich auswärts in Berlin weit über 10.000 Rauten zu „Nimm den Schal und stimm mit ein“ von den Plätzen und wippen mit ihren Schals im Takt, aber auf dem Weg zu diesem Durchbruch wurde der Versuch schon mehrfach für gescheitert erklärt.
Welche von den bestehenden Gesängen sind euch am liebsten – und warum?
Die Wahrnehmung ist natürlich sehr subjektiv. Für den einen ist es ein Lied, das er mit einem bestimmten Moment verbindet. Ein Beispiel dafür könnte das „Gemeinsam gegen alle“ vom Aufstieg sein. Für andere sind es Lieder mit kämpferischen Inhalten über „diese bedingungslose Leidenschaft, die sogar Repressionen übersteht“ oder unser Lied der Freiheit. Auch Melodien, die nahezu ohne Text auskommen, haben definitiv ihre Liebhaber, was sich besonders dann zeigt, wenn sich die Kurve zu den wiederkehrenden Klängen in einen immer lauter werdenden Rauschzustand versetzt.