Der gelungene Spagat
Die Leichtathletikabteilung des HSV ist Heimat für mehr als 1300 Aktive, darunter viele Kinder und Jugendliche – und gleichzeitig für eine Handvoll Spitzensportlerinnen und -sportler. Wie geht das: für alle da sein und ein paar bis zu den Olympischen und Paralympischen Spielen bringen? Auf Spurensuche auf der Jahnkampfbahn im Stadtpark.
Da stehen sie also. Ein paar Dutzend der Alugestänge, oben eine Querlatte aus Holz, weiß lackiert, darauf prangt der schwarze Schriftzug „Jahnkampfbahn Hamburg“. „Die Dinger sind ganz schön fies“, sagt Manuel Mordi und lacht. Der 22-Jährige weiß, wovon er redet. Schließlich ist es sein Job, möglichst schnell über zehn dieser fiesen, gut einen Meter hohen Dinger zu springen. Denn Manuel Mordi ist Hürdensprinter beim HSV, einer von Deutschlands Spitzenathleten. Doch auch als deutscher Meister und Olympiateilnehmer kommt man nicht ohne blaue Flecken durch diesen Sport. Wenn Manuel Mordi mit Vollspeed über die Hürden sprintet, dann sieht das so aus wie ein eingesprungener Spagat. Und ein solcher Spagat ist es auch, unter einem Dach Spitzen- und Breitensport zu vereinen. Denn die Leichtathletikabteilung seines HSV schickt Sportlerinnen und Sportler zu den größten Turnieren wie Olympia, Weltmeisterschaften und Europameisterschaften. Gleichzeitig hat der Verein mit rund 1300 Mitgliedern eine große Basis im Breitensport.
Auf der Jahnkampfbahn trainieren Kinder und Olympia-Athleten zusammen
Ein paar Dutzend Kinder laufen an diesem sonnigen Herbsttag gerade über das Grün der Jahnkampfbahn im Hamburger Stadtpark, als Manuel Mordi vom Training in der Halle kommt. Mordi, die Haare raspelkurz geschnitten, Hoodie, Turnschuhe, sagt ein paar Leuten „Hallo“, dann eine Umarmung für Phillip Plumeyer, den Abteilungsleiter der HSV-Leichtathletik. Mordi hat oft hier trainiert. Das traditionsreiche Leichtathletikstadion wurde 1924 eröffnet und gilt als eine der ältesten Arenen Deutschlands. Das denkmalgeschützte Ensemble mit roter Tartanbahn, Tribüne und markanten Backsteinbauten wird heute von Profis genauso genutzt wie von Kindern und anderen Hobbysportler:innen, auch gleichzeitig. Im Fußball ist es schwer vorstellbar, dass sich Profis und achtjährige Kicker aus der Nachbarschaft einen Trainingsplatz teilen. „Wir leben hier das Miteinander von Spitzen- und Breitensport. Das ist eine spannende Aufgabe“, sagt Phillip Plumeyer. Bei den Trainersitzungen gibt es auch mal Reibung, denn manche blicken eben aus Richtung Spitzensport auf die Themen im Verein, manche sehen ihre Arbeit als Bewegungsangebot für Kinder. Unvereinbar? „Nein“, sagt Plumeyer. Im besten Fall gehe es Hand in Hand.
Plumeyer ist ein typisches Beispiel für Ehrenamt im Sport. Und auch dafür, wie eng Breiten- und Spitzensport beim HSV zusammenhängen. Plumeyer war als Jugendlicher Zehnkämpfer. „Ich habe aber gemerkt: Für Titel reicht es nicht“, sagt er und lacht. Doch er hatte Spaß am Sport und am Miteinander, wollte auch andere für die Leichtathletik begeistern und wurde mit 18 Jahren Trainer. Plumeyer mag die Organisation, das Führen von Teams und das Entwickeln und Umsetzen einer Strategie – in seinem Job bei Philips genauso wie im Ehrenamt beim HSV, wo er sich auch um die rund siebzig Trainerinnen und Trainer kümmert. Er hat als Abteilungsleiter mitgeholfen, die Strukturen zu professionalisieren. „Wir haben jetzt eine strategische Ausrichtung, an der sich das ganze Team, die Hauptamtlichen genauso wie die Ehrenamtlichen, orientieren kann“, sagt er. Phillip Plumeyer macht das ehrenamtlich, zwei Hauptamtliche arbeiten mittlerweile in Räumen ganz in der Nähe der Jahnkampfbahn, wo sich auch die Leichtathletikhalle befindet, koordinieren, kümmern sich unter anderem um Sponsor:innen. Die Professionalisierung zahlt sich aus. Bei den Olympischen Spielen in Paris waren drei Leichtathleten des HSV am Start, bei den Paralympischen Spielen eine Athletin.
»Ich hatte in Paris die beste Zeit meines Lebens und kann nur jedem Athleten und jeder Athletin empfehlen, an diesem Traum festzuhalten.«
Manuel Mordi
Manuel Mordi und die HSV-Leichtathletikabteilung haben sich für die Zukunft viel vorgenommen.
Der späte logische Weg zur Leichtathletik
Einer der Olympia-Fahrenden ist HSV-Hürdensprinter Manuel Mordi. Der war in Paris neben Owen Ansah und Lucas Ansah-Peprah dabei – und blickt voller Freude zurück, auch wenn es für den Finaleinzug nicht gereicht hat. „Ich hatte in Paris die beste Zeit meines Lebens und kann nur jedem Athleten und jeder Athletin empfehlen, an diesem Traum festzuhalten und hart dafür zu arbeiten.“ Die Aufgabe als Hürdensprinter ist scheinbar einfach: So schnell wie möglich über die zehn Hürden, je 1,067 Meter hoch, und über die 110 Meter entfernte Ziellinie. Der 110-Meter-Hürdenlauf (Frauen 100 Meter Hürden) ist eine der Kerndisziplinen der Leichtathletik, seit den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit ohne Pause im Programm.
Manuel Mordi kam erst spät zur Leichtathletik. Sein Vater, in Nigeria geboren, liebt den Fußball. Die Mutter, gebürtige Russin, war Fechterin. Als Kind wollte er nur Fußball spielen. Zu den Bundesjugendspielen kam er auf die Jahnkampfbahn, die Trainer sahen schon, dass er ein schneller Junge war. „Lass doch deinen Bruder mal zum Training kommen“, sagten sie zu seiner Schwester Maria, die bis zu einer Knieverletzung als vielversprechendes Hochsprungtalent galt. Aber erst mit 15, als es mit der Fußballlaufbahn stockte, kam der Junge aus Barmbek regelmäßig ins Trainingszentrum am Stadtpark. Mit dem Wechsel aufs Gymnasium hatte er dort eine Sportlehrerin, die auch Leichtathletiktrainerin beim HSV war.
Heute ist Mordi 22 und die Hoffnung des deutschen Hürdensprints. „Christopher hat gleich gemerkt: Der Junge ist schnell“, sagt Phillip Plumeyer. Er meint Christopher Bickmann. Der ist seit 1987 Trainer im Verein, kümmert sich sowohl um Sportlerinnen und Sportler aus der Spitze als auch aus dem Hobbybereich. Und er nahm Manuel Mordi unter seine Fittiche. Mordi trainierte anfangs eher Sprint und Weitsprung. Doch der Trainer sah schnell: Nur eine Disziplin hat wirklich Aussicht auf Erfolg. Also riet er dem jungen Manuel bald zu diesen zehn Hürden mit jeweils knapp einem Meter Höhe. „Er hat mich eigentlich gezwungen, über die Hürden zu starten“, sagt Manuel Mordi und schmunzelt. Der Trainer sollte recht behalten. Mordi startet erst im U20-Bereich durch. Auch nach dem Wechsel auf die etwas höheren Männerhürden – in diesem Sport für viele eine echte Herausforderung – sichert er sich bald den deutschen Meistertitel. Bei einem Wettkampf in Leverkusen im Jahr 2024 läuft Manuel Mordi nicht nur seine bislang beste Zeit. Die 13,36 Sekunden machen ihn auch zum schnellsten Hamburger Hürdensprinter, drei Hundertstel schneller als Helge Schwarzer im Jahr 2009.
»Wir leben hier das Miteinander von Spitzen- und Breitensport.«
Manuel Mordi
Alles auf eine Karte – und doch ein Plan B
Wo liegt die Grenze des Möglichen? „Ich bin jemand, der gern an sein Limit geht – und es dann weiter pusht“, sagt Mordi. Eine Bestzeit, die er in seiner Karriere knacken will, hat er deshalb nicht im Kopf. Aber ein Ziel: eine Medaille bei einer großen Meisterschaft. Höhepunkt könnten die Olympischen Spiele in Los Angeles 2028 sein. „Da könnte ich auf meinem Peak sein – mal sehen“, sagt Mordi.
Wäre Mordi Fußballer und dabei einer der besten: Er hätte längst ausgesorgt. In einer Randsportart, als die die Leichtathletik gern mal bezeichnet wird, braucht man immer einen Plan B. Mordi will so weit kommen, wie es eben geht, und dann die Möglichkeiten ausloten. Das Studium der Psychologie hat er, auch wegen des Umzugs nach Mannheim, abgebrochen. „Vielleicht studiere ich später Sportmanagement – ich kann gut organisieren, würde gern auch nach der Karriere mit dem Sport verbunden sein“, sagt er.
Bis dahin ordnet er dem Traum alles unter. Denn Spitzensport ist ein Weg mit vielen Entbehrungen. „Ich muss schon oft Nein sagen“, sagt Manuel Mordi. Mit den Jungs was trinken, nach dem Training noch durchs Viertel ziehen, vieles geht nicht, weil der Trainingsplan wenig Freiraum lässt. Und dann ist da noch die Sache mit dem Umzug. Denn im Herbst hat er seine Laufschuhe und auch den Rest aus seiner Wohnung in einen Transporter gepackt. Mordi ist nach Mannheim gezogen, weil dort bis mindestens Ende 2028 der Bundesstützpunkt für Sprint und Hürden ist. Er ist dort nicht allein, auch die HSV-Sprinter Lucas Ansah-Peprah und Owen Ansah, mit denen er nach Paris reiste, trainieren dort beim Bundestrainer. Aber leicht ist ihm der Abschied nicht gefallen, 600 Kilometer von Familie, Freunden und auch seiner Partnerin entfernt zu sein. „Die versteht das natürlich“, sagt Mordi. Seine Freundin ist deutsche Meisterin im 400-Meter-Lauf. Die beiden haben sich im Trainingslager in Südafrika kennengelernt und freuen sich jetzt, wo Manuel Mordi für den Sport nach Mannheim gezogen ist, noch mehr, gemeinsam zu Meisterschaften und anderen Events zu reisen. Seinem Verein, dem HSV, bleibt er erhalten. Dort will man alles tun, um auch diesen Spagat zwischen Heimatort und Trainingszentrum so gut wie möglich zu begleiten. Damit Mordi noch besser wird – und mit und für den HSV Erfolge feiert.
Der HSV will weiter wachsen – in die Spitze und in die Breite
Die Spitze und die Breite, sie profitieren voneinander, davon ist Phillip Plumeyer überzeugt. So wie beim Fest der 1000 Zwerge, der größten Kinder-Leichtathletikveranstaltung in Deutschland. Einmal im Jahr treffen dabei kleine Sportlerinnen und Sportler aus Deutschland und darüber hinaus zusammen. Beim letzten Mal war auch Mordi dabei, berichtete aus Paris, und blickte in viele staunende Kinderaugen. „Diese Wertschätzung war schon toll“, sagt er. Er fühlte den Respekt der Kleinen für seine Leistung, die sahen, wie weit man mit Trainingsfleiß und Talent kommen kann. „Solche Vorbilder sind ein Ansporn, auch für unser Trainerteam“, sagt Phillip Plumeyer. Und das zeige, wie man es schaffen könne, Talente im Breitensport zu finden und sie auf Profiniveau zu hieven.
Ein starkes Team: Phillip Plumeyer (links), Abteilungsleitung HSV-Leichtathletik, und Manuel Mordi, deutscher Meister im Hürdensprint.
Der Traum: Hamburg wird Olympiastützpunkt
Manuel Mordi will also 2028 in Los Angeles dabei sein. Und auch auf der Jahnkampfbahn hat der HSV noch einiges vor. Die Leichtathletikabteilung gehört zu den größten Sport treibenden Abteilungen im HSV e.V. und zählt zu den größten Leichtathletikstandorten in Deutschland. „Wir hoffen, dass wir nach Olympia 2028 zum Stützpunkt werden“, sagt Plumeyer. Das würde bedeuten: mehr Geld vom Verband, mehr Unterstützung, noch mehr Spitzentrainerinnen und -trainer und eine Anziehungskraft für die Stars des Sports – und damit wiederum mehr Sponsor:innen. Erfolgreicher Spitzensport bringt somit an vielen Stellen Verbesserungen, die auch dem Breitensport zugutekommen.
Die Kids auf der Jahnkampfbahn würden einen, der es nach oben geschafft hat, auch wieder öfter sehen, wenn Hamburg zum Stützpunkt wäre. „Hamburg ist meine Heimat. Ich gebe alles für den Sport – aber wenn ich hier unter Idealbedingungen trainieren könnte, das wäre ein Traum“, sagt Manuel Mordi.