In Glasgow hat’s uns gut gefallen
Bei aller Rivalität: Fanfreundschaften sind im Fußball zwar weniger geworden, aber noch immer werden diese besonderen Beziehungen gelebt und gepflegt. Manchmal beginnt so eine Freundschaft mit einer Rolle Gaffer-Tape, manchmal braucht es schon einen Hammer, um die Zuneigung zwischen Fußballfans zu verankern. Die Geschichte der Fanfreundschaften beim Hamburger SV.
Der 15. September 2005, ein Donnerstag. In Kürze wird hier, im Volksparkstadion, das Erstrundenspiel im Uefa-Cup zwischen dem Hamburger SV und dem FC Kopenhagen angepfiffen. Nicht mal 300 Kilometer Luftlinie trennen die beiden Traditionsklubs – und doch ist es das erste Mal, dass diese Paarung zustande gekommen ist.
Der HSV, in der Vorsaison am Ende nur auf Platz acht, hat sich über den mühsamen Umweg UI-Cup für den Wettbewerb qualifiziert. Kopenhagen ist in der heimischen Superliga hinter Stadtrivale Brøndby nur Zweiter geworden. „Cup der Verlierer“ hat Franz Beckenbauer den Uefa-Cup mal genannt, und auch wenn das ein wenig abwertend klingt, hatte er damit ja nicht ganz unrecht.
Die Hamburger – mit Daniel Van Buyten, Timothée Atouba, Rafael van der Vaart und Naohiro Takahara – sind gewillt, sich wieder ein Siegerimage zuzulegen. Die Vorfreude auf den Europapokal, die Spannung vor dem Match gegen den unbekannten Gegner sind förmlich greifbar.
Kopenhagens Fanszene ist über die Grenzen Dänemarks hinaus für den guten Support bekannt, entsprechend neugierig ist die Szene in Hamburg. Nur noch wenige Minuten bis zum Anpfiff, da macht sich eine Delegation aus dem blau-weißen Gästeblock in Richtung HSV-Ultras auf. Die Stimmung ändert prompt ihre Temperatur, in der heimischen Kurve weiß niemand, was jetzt passieren wird. Und ob die Stimmung hier gleich ins Negative kippt.
Am Zaun kommt es zum Austausch. Die Kopenhagener wollen keinen Stress, sie haben ihr Gaffer-Tape vergessen. Verblüffte HSV-Ultras helfen aus, die Gäste aus Dänemark befestigen ihre Banner. Ein paar Rollen Klebeband werden zum Ursprung einer Verbindung, die bis heute hält. Jüngstes Beispiel: Beim Testspiel zwischen dem HSV und Gastgeber Kopenhagen im Juli dieses Jahres begleiteten 8000 Hamburgerinnen und Hamburger ihre Mannschaft in den Norden, um eine nun schon zwanzig Jahre währende Fanfreundschaft zu feiern.
Jan Walter Möller, Mitautor des Standardwerkes „Kinder der Westkurve: Die Geschichte der HSV-Fans“, war in Kopenhagen mit dabei. „Drei Tage Megaprogramm, Bombenwetter und eine sensationelle Gastfreundschaft“, fasst er die Tage aus dem Sommer zusammen. Möller, Jahrgang 72 und seit 1982 regelmäßig beim HSV, kennt alle Facetten des Mit- oder Untereinanders der Fanszenen in Deutschland und Europa. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Rivalitäten sind gerade im Fußball noch intensiver ausgeprägt als Freundschaften, die Derbys zwischen Celtic und Rangers, zwischen Barça und Real, zwischen Hamburg und Bremen sind weltbekannt. Der menschliche Geist ist leider – insbesondere unter Trägern von X- und Y-Chromosom – schneller fasziniert von Wut und Gewalt als von Love and Peace.
Umso schöner, dass es Geschichten gibt wie jene von den Fans vom VfL Bochum und von Bayern München, die seit 1973 eine Freundschaft pflegen, weil ein paar Bochumer ein paar Bayern Zuflucht vor ein paar VfL-Rowdys in ihrer Stammkneipe gewährten. Oder die Liebesgeschichte von Schalkern und Nürnbergern. „Wenn Fußballfans erst einmal ihren Beißreflex überwinden“, erklärt es Hobbysoziologe Möller, „kann daraus etwas Wunderbares entstehen.“
Die Kopenhagener wollen keinen Stress, sie haben lediglich ihr Gaffer-Tape vergessen.
Der Dauerkartenbesitzer ist schon so lange dabei, dass er sogar noch Freundschaften kennengelernt hat, die heute etwas eingeschlafen sind. So wie es mit Freundschaften und Beziehungen gelegentlich passieren kann. Man muss sie schon pflegen, sonst gehen sie ein. Recht vertrocknet ist daher das Verhältnis zwischen Hamburgern und Dortmundern, die in der Hochzeit der Fanfreundschaften Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger mal ganz dicke Buddys waren. „Ein Drittel unserer Kutten schmückten damals Aufnäher vom BVB“, erinnert sich Zeitzeuge Möller. Die Power vom Westfalenstadion. Ich bin stolz, ein Dortmunder zu sein. Die Freundschaftsbänder der Kuttenszene. Fans beider Mannschaften besuchten sich gegenseitig, Männerfreundschaften entstanden und bis heute fährt einer wie Jan Walter Möller gern nach Dortmund, weil er da eben „richtig gute Jungs und Freunde“ kennengelernt hat. Ganz eingeschlafen ist die Freundschaft übrigens nicht. Gerade unter Kuttentragenden wird diese eifrig gepflegt. Noch immer treffen sich regelmäßig Hunderte von ihnen vor gemeinsamen Spielen oder besuchen einander in der jeweils anderen Stadt. So wie am Rande des HSV-Heimspiels Anfang November gegen den BVB. Mehrere Hundert Fans aus Dortmund und Hamburg feiern gemeinsam vor dem Spiel und singen einen Ohrwurm, der schon etwas in Vergessenheit geraten ist: „Dortmund und der HSV!“
»Ein Drittel unserer Kutten schmückten damals Aufnäher vom BVB.«
Jan Walter Möller
Eigentlich ist das ja absurd. Fußballfans sehen fast überall auf der Welt gleich aus. Sie tragen, T-Shirts oder Trikots, tragen Schals, tragen Hüte, schwenken Fahnen. Sie unterscheiden sich nur in ihren Klubfarben und in dem Verein, den sie unterstützen. Oft verhindert scheinbar gottgegebene Rivalität eine Freundschaft, mal ging es bei der Übergabe von Gaffer-Tape nicht immer ganz so friedlich ab wie damals im Volksparkstadion. Dann war der Beißreflex wieder stärker. Aber dann und wann „wächst aus dem Samen einer freundlichen Begegnung eine Freundschaft“, wie es Möller so schön ausdrückt.
Wie vor ein paar Jahren zwischen Ultras vom HSV und dem VfB Lübeck. Der Aufnäher der Ultraszene ist das Banner, und genau über jenes hängten die Mitglieder der Hamburger Castaways Ultras vor ein paar Jahren eine kleine Fahne der Freunde vom Ultra’ Kollektiv Lübeck. Fußballfans aus Hamburg und Lübeck stehen schon seit vielen Jahren in freundschaftlicher Verbindung, feiern gemeinsam Geburtstage und Hochzeiten oder schauen einfach zusammen Fußball. Das Leben kann so schön sein.
So schön, wie es bei Begegnungen mit den Freundinnen und Freunden aus Bielefeld und Hannover zugeht. Der Ursprung der innigen Zuneigung zu Arminia Bielefeld war ein Fußballturnier im Jahre 1974, als die Ausrichter vom Fanclub Rothosen nur Teams aus Fangemeinden von Klubs einluden, deren Vereinsfarben Schwarz-Weiß-Blau sind. Arminia-Fans kamen, sahen und siegten – jedenfalls in Sachen emotionaler Verbindung zum HSV. Als man sich im August 2018, nach mehr als neun Jahren das erste Mal wieder zu einem Pflichtspiel traf, konnte man im Vorfeld der Partie sogenannte Begegnungsschals erwerben.
Ähnliche Schals gibt es natürlich auch, um die Freundschaft zwischen dem großen und dem kleinen HSV zu würdigen. Mit den 96-Fans verbindet die HSV-Fans ebenfalls schon eine lange und gute Beziehung. Einer der Höhepunkte: Als die „Roten“ aus Hannover im Frühjahr 2010 tief im Abstiegskampf steckten und es bei 96 mal wieder an allen Ecken brannte, entrollte der HSV-Anhang beim Heimspiel gegen Hannover ein riesiges Banner mit der Aufschrift „96, DU WIRST NIEMALS UNTERGEHEN“. Bei der Geschichte bekommen sie in der niedersächsischen Landeshauptstadt bis heute feuchte Augen.
Die vielleicht schönste Geschichte hat ihren Anfang im März 1974, als der HSV den schottischen Serienmeister Glasgow Rangers ins frisch für die Weltmeisterschaft umgestaltete Volksparkstadion zum Testspiel einlud. Heute kann niemand mehr sagen, wie letztlich der erste Kontakt zwischen HSV- und Rangers-Fans zustande kam, aber vermutlich irgendwo zwischen Bier, Bratwurst und Stehplatzbereich. Schals wurden getauscht, Adressen auch, damals musste schon eine Brieffreundschaft her, damit Jungs wie Michael und Kay den Kontakt nach Schottland ausbauen konnten. Die Mitglieder der Rothosen, des ältesten HSV-Fanclubs überhaupt, schafften es schließlich 1977, erstmals den legendären Ibrox Park zu besuchen, und gründeten auf dieser Reise gleich mal den Hamburg Loyal Rangers Supporters Club – heute der älteste Rangers-Fanclub auf dem europäischen Festland.
Mit den 96-Fans verbindet die HSV-Anhängerschaft eine lange und gute Beziehung.
Immer mehr Menschen aus Schottland und Hamburg begeisterten sich für den anderen Verein. HSV-Fans, die damals dabei waren – wie Jan Walter Möller – erinnern sich selig daran, wie sie über befreundete Rangers-Fans an Karten für das berühmte „Old Firm Derby“ zwischen Rangers und Celtic kamen. Schon damals eine fast unbezahlbare Rarität. „Wenn ich in Glasgow bin“, sagt Möller, „gibt es nur eine Möglichkeit, dass ich auf die Mütze bekomme. Nämlich dann, wenn ich meine Rechnung am Tresen selbst zahlen möchte.“ Die Band Abschlach hat diese Verbindung nach Schottland sogar in der Vereinshymne „Mein Hamburg lieb’ ich sehr“ verewigt: „In Glasgow hat’s mir gut gefallen.“ So gut, dass man den Rangers gar nicht böse sein konnte, als sie 1996 Publikumsliebling und Nationalspieler Jörg Albertz für zehn Millionen D-Mark aus seinem Vertrag mit dem HSV herauskauften. „Hammer-Ali“ schoss sich auch bei den Rangers in die Herzen. Als sich im selben Jahr 1500 Hamburgerinnen und Hamburger aufmachten, um das Erstrundenspiel ihres Vereins gegen Celtic Glasgow zu sehen, halfen die Rangers-Fans mit Tickets und Support. Zum Dank kauften die Deutschen ihren Gastgeberinnen und Gastgebern den Fanshop leer und verspotteten im Stadion den verhassten Stadtrivalen so gut wie nur möglich.
Immer mehr Menschen aus Schottland und Hamburg begeistern sich für den anderen Verein.
Auch wenn es so etwas für eine echte Freundschaft nicht braucht: Im Frühjahr 2021 machten beide Klubs die Fanfreundschaft sogar ganz offiziell und schlossen eine Vereinbarung, um sich in Sachen Klub- und Fankultur gegenseitig zu unterstützen. Wie eng die Verzahnung zwischen Rangers und HSV wirklich ist, zeigt sich auch am Beispiel von Jörg Albertz. Fast ein Vierteljahrhundert nach seinem letzten Spiel für die Rangers wird er immer noch zu besonderen Spielen oder Events eingeladen. Und als sich neulich ein Mann meldete, der für seinen geplanten Rangers-Fanclub noch ein zwölftes Mitglied suchte, sagte Albertz zu. Seitdem ist „Hammer-Ali“ in einem Glasgow-Rangers-Fanclub. Ganz offiziell.
Doch wie es so ist mit Freundschaften: Nicht immer ist man einer Meinung und manchmal kann die gegenseitige Zuneigung dadurch auch belastet werden. So wie im März dieses Jahres, als während der Europa-League-Partie zwischen den Rangers und Fenerbahçe im Block der Schotten Banner mit der Aufschrift „Keep Woke Foreign Ideologies Out“ und „Defend Europe“ entrollt wurden. „Defend Europe“ ist der Kampagnentitel der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ und Ausdruck einer politischen Richtung, die so gar nicht mit den Überzeugungen und den Werten der aktiven Hamburger Fanszene vereinbar ist. „Trotz Gesprächen zwischen unseren Ultras und den Ultras der Glasgow Rangers hat eine eindeutige Distanzierung von dieser Aktion nicht wirklich stattgefunden“, sagt Sven Freese, Abteilungsleiter des HSV Supporters Clubs und selbst Mitglied eines Rangers-Fanclubs. Freese zieht daraus persönliche Konsequenzen: Erstmals seit vielen Jahren wird er in dieser Saison kein Spiel der Rangers besuchen.
Klassische Fanfreundschaften sind ein wenig aus der Mode gekommen, jedenfalls im großen Stil. Doch noch immer gibt es Vereine, zu denen ein Großteil der HSV-Fans einfach eine besondere Verbindung spürt. So wie erst neulich noch in der 2. Bundesliga. Jan Walter Möller war dabei, als Fans vom FCK beim Auswärtsspiel Hamburg-Fans spontan zu einer Weinführung oder ein paar Gläsern Schorle einluden. „Da hat man richtig diesen tiefen Respekt voreinander gespürt“, sagt Möller. „Zwei Traditionsvereine, beide mit einer großen Klubikone, mit einem großen Einzugsgebiet in der Region – Klubs wie Kaiserslautern oder Hamburg sind sich einfach sehr ähnlich.“ In den Farben getrennt, in der Sache vereint. Auch dann, wenn die Sache sogar größer wird als Fußball. So wie am 28. Oktober 2023, als der HSV zum Gastspiel auf dem Betzenberg weilte und die FCK-Fanszene den Tod ihres Vorsängers Daniel Hasemann betrauerte. Im Gästeblock entrollten HSV-Fans ein schlichtes Plakat mit der Aufschrift „Hasemann unvergessen“. Das ist es, was Jan Walter Möller mit Respekt gemeint hatte – und was den Fußball doch letztlich ausmacht.