Ich hab’ noch eine Kutte in Berlin
Fotos (3): Witters
Vor dem Anpfiff reichen sich die beiden Kapitäne Frank Terletzki (links) und Felix Magath die Hände.
HSV-Torwart Uli Stein fliegt durch den Strafraum im Spiel gegen den ostdeutschen Verein BFC Dynamo.
1982 trifft der HSV in der ersten Runde des Europapokals der Landesmeister ausgerechnet auf den BFC Dynamo aus Ost-Berlin. Für viele HSV-Fans in der DDR die seltene Gelegenheit, ihren Lieblingsklub live spielen zu sehen. Der erst dreizehnjährige Karsten Armgardt ist einer von ihnen. Doch eine selbst gebastelte Liebeserklärung an den HSV wird ihm zum Verhängnis.
Ich bin 1968 in Brandenburg an der Havel geboren, gut 200 Kilometer von Hamburg entfernt und doch in einer anderen Welt. Realsozialismus pur, Ulbricht, Honecker, Sparwasser trifft gegen den Klassenfeind, Magdeburg holt den Europapokal, Biermann ausgebürgert, Carl Zeiss Jena – mein Verein – im Finale um den Europapokal der Pokalsieger 1981. So sah das Leben damals aus.
Meine Kindheit und Jugend waren nicht immer ganz einfach, Fußball gab mir ein Zuhause, und wie fast jeder Fußballfan im Osten träumte ich von einer scheinbar wundersamen Welt im nicht zu erreichenden Westen: Die Bundesliga wurde auch für mich zum Sehnsuchtsort, und dass es heute eigentlich unvorstellbar ist, dass ich damals nicht einfach in den Zug Richtung Hamburg steigen durfte, zeigt nur, wie absurd dieser Zustand einer innerdeutschen Grenze und einer Mauer in Berlin war.
Es fiel mir nicht schwer, mich in den HSV zu verlieben. Pokalsieger 1976, Meister 1979, Europapokalfinale 1980 gegen Nottingham Forest. Jimmy Hartwig, Kevin Keegan, Horst Hrubesch – ich verehrte sie alle, doch einer hatte es mir ganz besonders angetan: Manfred Kaltz, von mir als Brandenburger liebevoll „Manne“ genannt. Er war rechter Verteidiger, ich linker. Er auf den ganz großen Bühnen dieser Welt, bei Weltmeisterschaften und Pokalendspielen, ich in der Jugend von Carl Zeiss Jena als hoffnungsvolles Talent auf der Außenbahn. Kaltz dachte und spielte Fußball wie ich oder so, wie ich ihn gern mal spielen wollte. Ein echter Held meiner Jugend. Was den Verein, für den er zur Legende wurde, nicht weniger attraktiv für mich machte.
In der DDR gab es damals für einen Jungen wie mich keine legale Möglichkeit, seiner Liebe zu einem sogenannten West-Verein Ausdruck zu verleihen. Fußballfans wurden verhaftet und bekamen Probleme mit der Staatssicherheit, weil sie mit einer Fahne von Borussia Mönchengladbach oder einem Schal von Bayern München erwischt worden waren. Fanclubs und Stammtische wurden ausspioniert. Logischerweise konnte ich deshalb auch nicht einfach in ein Sportgeschäft gehen und mir ein Trikot von Manfred Kaltz kaufen. Erstens gab es solche Geschäfte nicht und zweitens war ein Trikot vom HSV in der DDR so schwer zu besorgen wie eine Kiste mit Bananen und Orangen. Es war mir vom Staat offiziell verboten, Fan vom Hamburger SV zu sein.
Der Wimpel zum Spiel ist
heute ein Stück Zeitgeschichte.
Foto: privat
Also musste ich kreativ werden. Die Kultur der Kutten hatte sich auch bis zu uns verbreitet. Ich schnitt die Ärmel von einer Jeansjacke ab und entwarf Aufnäher mit allem, was ich dafür fand und verwenden konnte. Da die Kommunikation von West nach Ost Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger noch sehr bescheiden war, wusste ich nicht, wie die Vereinsfarben meines HSV wirklich aussahen. Was ich wusste: dass man den Klub die Rothosen nannte. Also bastelte ich mir für die Rückseite meiner Kutte eine große Raute – in Rot und Weiß.
Es dauerte einige Zeit, bis auch zu mir vorgedrungen war, welche Farben die HSV-Raute wirklich hatte. Auf meinen Fehler hinweisen konnte mich niemand – die Kutte zog ich nur dann an, wenn ich allein zu Hause vor dem Radio saß oder Ausschnitte aus der „Sportschau“ zu erhaschen versuchte. So saß ich da, jeden Samstagnachmittag, und lauschte gebannt in meiner Weste den Heimspielen im Volksparkstadion oder dem Auswärtssieg bei Werder Bremen. Bundesliga hinter der Mauer. Solche wie mich gab es überall im Land. Verbotene Liebe.
»Es fiel mir nicht schwer, mich in den HSV zu verlieben.«
Echte Handarbeit: Vor dem Presseraum sind die Aufstellungen der Teams noch mit Kreide auf die Tafel geschrieben.
Wacht über den westdeutschen Besuch: Ein Foto des Vorsitzenden Erich Honecker prangt über den Köpfen von Manager Günter Netzer (v. l.) und Trainer Ernst Happel.
Fotos (2): Witters
Das mit dem einsamen Kuttengang blieb so, bis ich erfuhr, wen das Los als Erstrundengegner im Europapokal der Landesmeister in der DDR ausgewählt hatte. Der Hamburger SV würde tatsächlich nach Ost-Berlin kommen, um dort gegen den Stasi-Klub BFC Dynamo zu spielen. Die hasste man, wenn man nicht gerade BFC-Fan war, in der DDR mit Hingabe. Vorrangig deshalb, weil Stasi-Chef Erich Mielke ein leidenschaftlicher Anhänger war und den Klub mit nicht immer ganz fairen Mitteln unterstützte. Und nebenbei waren die Berliner damals das Maß aller Dinge in der DDR-Oberliga, eine Spitzenmannschaft, die fast jedes Jahr im Europapokal spielte und dort gegen die besten Teams in Europa bestand. Doch der BFC war mir in diesem Moment egal. Am 15. September 1982 spielte der HSV bei uns im Osten und ich würde alles daransetzen, mir dieses Spiel im Stadion anzusehen.
Einen regulären Vorverkauf für Karten gab es nicht. Jahre später würde herauskommen, dass das Ministerium für Staatssicherheit damals einen Großteil der Karten einfach an ihre einzelnen Bezirksverwaltungen verschickt hatte, die dann wiederum die Tickets an ausgewählte Personen verteilten. Die damals recht lebendige Fanszene vom BFC ging leer aus und fühlte sich – vollkommen verständlich – verarscht. Diese verpasste Chance, sich im eigenen Stadion gegen ein Team aus der Bundesliga auf der großen Bühne zu zeigen, nahmen die Fans dem Klub richtig krumm. Viele Anhängerinnen und Anhänger kehrten damals ihrem Klub den Rücken.
Doch zurück in jenen Herbst 1982. Ich war dreizehn Jahre alt und noch ziemlich grün hinter den Ohren, also kratzte ich mein gespartes Taschengeld zusammen, stieg in die Bahn und machte mich auf den Weg nach Berlin. Für diesen besonderen Tag hatte ich mir ein besonderes Outfit zugelegt: meine heiß geliebte Selfmade-Kutte. Ein Fehler, den ich bald schon bereuen sollte. Das Gelände rund um den Jahn-Sportpark in Prenzlauer Berg war weiträumig abgesperrt. Zwei Kontrollen überstand ich schadlos, dann stoppten mich Beamte in Zivil, vermutlich von der Stasi. Einer von ihnen forderte mich auf, ihm meine Fahrkarte zu zeigen. Abfahrtort: Brandenburg an der Havel. „Was ist das für eine Zahl auf deiner Weste?“, wollte der Stasi-Mann wissen. Einer meiner größeren Aufnäher zeigte eine stilisierte „1“ und dazu die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich hatte keine Ahnung, was das für eine Bedeutung hatte, ich hatte es in die Hände bekommen, für cool genug befunden und an meiner Weste angebracht. Jetzt sollte mir ausgerechnet diese komische „1“ zum Verhängnis werden. Für meine rot-weiße HSV-Raute schienen sich die Männer nicht zu interessieren.
Franz Beckenbauer begleitete den HSV als Tourist nach Ost-Berlin. Der ehemalige Libero sorgte für Begeisterung bei den jungen Leuten.
Foto: Witters
„Na, dann komm mal mit“, hörte ich einen von ihnen sagen, „und die Weste ziehste gleich mal aus.“ Sie setzten mich auf die Rückbank ihres Wartburgs und fuhren los. Im Rückspiegeln verschwand der Jahn-Sportpark, mein Sehnsuchtsort, in der Ferne. Aus der Traum. Das 1:0 durch Berlins Hans-Jürgen Riediger, den feinen Ausgleich durch Jürgen Milewski, die dank der handverlesenen Systemlinge miserable Atmosphäre, erlebte ich lediglich im Radio, auf der Wache einer nahen Polizeistation. Die Weste hatte man mir, dem dreizehnjährigen Teenager, der eigentlich nur seine Helden bestaunen wollte, abgenommen. Man verhörte mich ein paar Stunden, dann durfte ich gehen. Das Spiel war da längst vorbei, der HSV hatte den wichtigen Auswärtstreffer erzielt. Im Rückspiel würden die Hamburger mit 2:0 gewinnen und in die nächste Runde einziehen. Ein Siegeslauf, der erst im Finale von Athen enden sollte.
Ich hatte die zukünftigen Sieger verpasst, die Stars aus dem Westen waren längst wieder in ihren Hotelzimmern. Schon morgen würden sie das Land verlassen. Vielleicht würde ich nie wieder die Chance bekommen, den HSV live zu sehen. Wer konnte das im Herbst 1982 schon sagen? An eine Wiedervereinigung glaubte damals kein Mensch. Traurig und enttäuscht fuhr ich nach Hause. Meinen Eltern erzählte ich nichts. Meinen Vater hätte das nur in Rage gebracht.
»Für diesen besonderen Tag hatte ich mir ein besonderes Outfiit zugelegt. Meine Kutte. Ein Fehler.«
Einige Tage später erhielt ich die Info, dass ich meine Kutte auf der Polizeistation abholen könne. Also fuhr ich wieder nach Berlin und erhielt dort tatsächlich meine Weste wieder. Die HSV-Abzeichen waren noch alle dran, auch die Raute mit den falschen Farben. Nur die „1“ mit der USA-Flagge hatte man entfernt.
Mich hat dieses Erlebnis damals nicht davon abhalten können, mein Herz weiter an den HSV zu verlieren. Auf dem Mofa meines Kumpels fuhr ich später regelmäßig nach Ketzin, ein paar Kilometer westlich von Potsdam gelegen. Dort lag – streng bewacht – eine der großen Müllhalden von West-Berlin. Für uns Ossis eine wahre Goldgrube. Ich fand alte Ausgaben vom „Kicker“, Aufkleber von Bundesliga-Klubs, Fotos vom HSV. Und eines schönen Tages sogar die ersten Adidas-Turnschuhe meines Lebens. Sie waren mir viel zu klein, aber ich trug sie trotzdem mit Stolz. Gerade die „Kicker“-Ausgaben erwiesen sich als enorm wertvoll. Die sorgsam aus den Ausgaben ausgeschnittenen Fotos verkaufte ich auf den Schwarzmärkten zwischen Schulhof, Bolzplatz und Stadion für seltene Aufnäher für meine Kutte oder tauschte sie gegen Westgeld ein.
Am 9. November 1989 beendete ich gerade meine Spätschicht im Stahlwerk, als sich das Gerücht verbreitete, die Mauer sei offen. Und als ich nach Hause kam, begrüßte mich meine Freundin mit den Worten: „Du, die haben tatsächlich die Mauer aufgemacht!“ Es stimmte also wirklich. Zwei Tage später fuhren wir zum Grenzübergang an der Glienicker Brücke in Potsdam. Mein erster Eindruck im Westen: Ein großer Lkw, von dem Bananen und Kaffeepackungen in die Menge geworfen wurden. Wir holten uns die 100 D-Mark Begrüßungsgeld von der Bank und gingen shoppen. Für 95 Mark erstand ich eine Lederjacke. So sah sie also aus, die Wende.
Jetzt erst recht: Trotz einer unschönen Nacht mit der Stasi hat Karsten Armgardt seinem HSV ewige Treue geschworen.
Foto: Karsten Armgardt (privat)
Dem HSV bin ich in all den Jahren stets verbunden geblieben. 1997 gründete ich mit Freunden den HSV-Fanclub Fläming, zwischenzeitlich waren wir der größte Fanclub in den neuen Bundesländern. Die Kutte gibt es leider nicht mehr, auch keine Bilder von meinem Abenteuer im Herbst 1982 – meine beschlagnahmte Kamera sah ich nie wieder. So merkwürdig das klingt, aber gerade, weil man mir damals verbot, meinen Lieblingsverein im Stadion spielen zu sehen, wurde meine Leidenschaft für die Rothosen immer noch größer. Kein Land der Welt sollte seinen Bürgern verbieten, ein Fußballspiel zu besuchen. Oder dafür sorgen, dass man Fotos von Manne Kaltz oder Felix Magath aus einem Müllberg fischen muss. Ich will die Zeit von damals trotzdem nicht missen. Es war ein großes Abenteuer, und zum Glück ging es glimpflich für mich aus. Es hat leider ganz andere Biografien von Westfußballfans gegeben, die vom Staat ernsthaft drangsaliert wurden. Bei mir war es lediglich die selbst gebastelte Kutte. Die mit der rot-weißen HSV-Raute.
»Einige Tage später erhielt ich die Info, dass ich meine Kutte auf der Polizeistation abholen könne.«