Sammelleidenschaft

Gib mir Stoff!

Nichts eignet sich besser dafür, seine Liebe zum Verein auszudrücken, als das passende Trikot. Niemand weiß das besser als Christian Michalkiewicz. Mehrere Hundert Original-HSV-Trikots hängen in seinem Schrank, darunter auch ein Klassiker aus der legendären Europapokalnacht von Athen.

Text Alex Raack ~ Fotos Felix Schmitt

Am späten Abend jenes unvergessenen 25. Mai 1983, als der Hamburger SV gerade im Finale von Athen 1:0 gegen Juventus Turin gewonnen hatte und damit zur besten Mannschaft in Europa aufgestiegen war, machte sich ein Mann auf, den wichtigsten Pokal seiner Karriere entgegenzunehmen. Horst Hrubesch, Naturgewalt im Sturmzentrum, hatte im Endspiel zwar nicht getroffen, aber als Kapitän seine Mannschaft zum größten Erfolg in der Vereinsgeschichte geführt. Vielleicht gibt es in der Historie des HSV keinen ikonischeren Moment als jene Szene, wie Horst Hrubesch den silbernen Pokal in den Abendhimmel des Olympiastadions streckt.

Momente wie diese sind auch deshalb so schön, weil sie einzigartig sind. Kaum hatte Hrubesch den Pokal in die Höhe gestreckt, kaum hatte der HSV tatsächlich den Favoriten aus Italien bezwungen, war der Moment, war dieser Abend auch schon wieder vorbei. Was bleibt, sind die Erinnerungen daran. Und weil der Mensch nicht allein vom reinen Gedanken leben kann, klammert er sich gern an handfeste Dinge, die für immer mit diesen großen Momenten in Verbindung gebracht werden. Für ein Originalticket vom Endspiel bezahlt man bei Ebay mehr als 150 Euro, es gibt T-Shirts und Schals, die diesen Tag verewigt haben. Aber das wichtigste Erinnerungsstück wurde zur Legende. Als Felix Magath in der neunten Minute mit einem wunderschönen Kunstschuss das Tor des Tages erzielte, tat er das in ganz besonderer Arbeitskleidung: rote Stutzen, rote Hose mit weißen Adidas-Streifen und vor allem ein rotes Baumwolltrikot von Adidas, weiße Streifen auf den Schultern, weiße Nadelstreifen, weiße Rückennummer, HSV-Raute über dem Herzen und vorn in der Brustmitte statt des üblichen Emblems von Sponsor BP drei Buchstaben ganz in Weiß: H S V.

Weiß so ziemlich alles, was man über HSV-Trikots wissen kann: Christian Michalkiewicz.

Ein Trikot von so schlichter Schönheit, dass es aus heutiger Sicht wie ein Designklassiker daherkommt. Für die Spieler hingegen war das Outfit schlicht „Mittel zum Zweck“, wie es der damalige Linksverteidiger Bernd Wehmeyer im Interview für das Standardwerk „Mit der Raute auf der Brust“ mal verraten hat. Arbeitskleidung, gut genug, um damit neunzig Minuten Fußball zu spielen und ausreichend Schweiß aufzusaugen. Ihre Trikots sammelten nur die wenigsten Fußballer, für die meisten waren die Jerseys lediglich ein bisschen Stoff. Lumpi Spörl hat mal verraten, dass er nach seiner Karriere zwei blaue Müllsäcke voller Match­worn-Trikots an einen lokalen Amateurverein gespendet hat, ohne zu ahnen, dass jedes dieser Trikots heutzutage mehrere Hundert Euro wert wären. Zitat: „Wenn ich höre, wie die heute gehandelt werden, hätte ich die mal lieber aufbewahren sollen.“

Einer, der den Wert eines HSV-Trikots besonders gut bemessen kann emotional wie wirtschaftlich –, ist Christian Michalkiewicz, Autor des schon erwähnten Trikot-Opus „Mit der Raute auf der Brust“. Er entdeckte erst im vergleichsweise hohen Alter von 47 Jahren seine Leidenschaft für Trikots, als er sich jenes weinrot-schwarz gestreifte DFB-Leibchen kaufte, in dem die Nationalmannschaft auf dem Weg zum WM-Titel 2014 Brasilien demontiert hatte. Eine Erinnerung an diesen großartigen Sommer. Warum, dachte sich Michalkiewicz, habe ich dann eigentlich keine Trikots meines Leib- und Magenklubs HSV? Also holte er das nach. Kaufte das Heimjersey der Saison 2007/2008 (rote Nadelstreifen auf weißem Untergrund und der Stern über der Raute), das Rote mit den weißen Adidas-Streifen auf dem Arm aus der Uefa-Cup-Saison ein Jahr später. Und irgendwann fiel Christian das erste originale Spielertrikot in die Hände. Robert Tesche hatte es getragen; als es der Sammler überstreifte, merkte er den Unterschied von Fan- zu Originaltrikot. Es dauerte nicht lange, da hatte Christian 15 solcher Match­worn-Trikots in seinem Schrank. Aus dieser ersten Leidenschaft entwickelte sich eine Sammelwut, die dazu geführt hat, dass im Hause Michalkiewicz inzwischen eine hohe dreistellige Zahl an Trikots zusammengekommen ist. Andere haben Uhren, Christian hat Originaltrikots von Uwe Seeler oder Felix Magath. Manche dieser Trikots sind nicht weniger wert als eine Rolex.

»Wenn ich höre, wie die Trikots heute gehandelt werden, hätte ich die mal lieber aufbewahren sollen.«

Harald „Lumpi“ Spörl

In diesem Trikot gelingt dem HSV in der Saison 1982/1983 die Titelverteidigung der Meisterschaft.

Rarität: ein Matchworn-Trikot von Uwe Seeler aus dem Jahr 1959.

Das Originaltrikot von Horst ­Hrubesch aus dem Finale von Athen 1983.

Der Fan und Sammler hat eine sehr schöne Beschreibung dafür, warum sich so ein Hype um Fußballtrikots entwickelt hat: „Trikots sind wie ein gelebtes Foto, das man nicht nur ansehen, sondern auch tragen kann.“ Eine Verbindung aus Stoff zu den Helden von Athen, Berlin oder aus dem Volksparkstadion. Größer kann diese Verbindung nicht sein, wenn es sich sogar um ein Trikot handelt, das Charly Dörfel, Kevin Keegan oder Jörg Albertz mal selbst getragen haben.

Womit wir wieder beim 25. Mai 1983 wären und bei Horst Hrubesch, der mit seiner Mannschaft eine Ehrenrunde gedreht hat und jetzt noch jene Geste vollführt, die zu den schönsten in diesem Sport gehört: Er tauscht sein Trikot mit Gegenspieler Sergio Brio, einem 1,90 Meter großen Abwehrhünen, der sich in seinem klassisch schwarz-weiß gestreiften Juve-Trikot mehr als einmal in die Luftkämpfe mit dem „Kopfballungeheuer“ geworfen hat. Das rote HSV-Trikot mit der Rückennummer 9 landet zunächst in der Tasche von Sergio Brio, anschließend mit dieser in Turin und dort sehr wahrscheinlich in einem Schrank oder einer Kiste.

Feiner Zwirn: 2008 trägt der HSV ein Trikot mit roten Nadelstreifen.

Trikot der geschenkten ­Saison 1994/1995. Am Ende landete der HSV auf Platz 13.

Und noch ein Trikot: Christian Michalkiewicz hat noch immer nicht genug.

Bedingung: Ex-Juve-­Spieler Brio muss es verkaufen

Viele Jahre später Hrubesch und Brio haben ihre Karrieren längst beendet kommt Christian Michalkiewicz, der damals beim großen Finale von Athen gerade einmal 13 Jahre alt war, im Internet in Kontakt mit einem Trikothändler aus Italien. Der bietet dem deutschen HSV-Fan einen ungeheuren Fund an: jenes Trikot, das Horst Hrubesch im Endspiel trug und mit Sergio Brio tauschte. Brio wolle das Stückchen Stoff verkaufen. Eine Geschichte, die zu gut klingt, um wahr zu sein, denkt sich der Sammler aus Hamburg, bekundet dann aber doch sein Interesse. Unter einer Bedingung: Brio muss ihm das Trikot höchstpersönlich verkaufen. Kein Problem, erklärt der Zwischenhändler, der frühere Defensivspezialist arbeite inzwischen als Experte für das italienische Fernsehen und reise regelmäßig durch das Land. „Ich verabredete mich mit Brio am Flughafen von Rom und sagte zu meiner Frau: ‚Lass uns zusammen dahinfliegen, und wenn wir beschissen werden, machen wir uns wenigstens eine gute Zeit‘“, erinnert sich Michalkiewicz. Doch als der Flieger aus Deutschland einige Tage später in Rom landete, wartete am Gate ein groß gewachsener, eleganter Italiener, der alle paar Meter um ein Foto gebeten wurde. Spätestens da wusste Michalkiewicz, dass es sich um den echten Sergio Brio handelte.

Kurz darauf war das echte Trikot von Horst Hrubesch in seinem Besitz. Natürlich ist es einer der Höhepunkte seiner Sammlung. Einige seiner schönsten Stücke hat der Hamburger ans HSV-Museum verliehen. Ist es überhaupt möglich, bei so einer Auswahl sein liebstes Trikot zu benennen? Da muss Christian Michalkiewicz kurz überlegen und nennt dann ein Match­worn-Trikot von Uwe Seeler aus dem Jahr 1959, ein Jahr vor dem Gewinn der deutschen Meisterschaft. „Schiesser-Feinripp, ein ganz dicker Stoff, der speziell bei Regen furchtbar schwer gewesen sein muss. Uwes Nummer 9 ist hinten aufgenäht, er selbst hat das Trikot unterschrieben“, schwärmt der Trikotliebhaber und erinnert dann gleich an das nächste historische Schmuckstück: „Achtelfinal-Rückspiel im Uefa-Cup 1984, das Trikot, in dem Michael Schröder den Elfmeter verursachte, mit dem Inter Mailand ins Viertelfinale einzog.“ Natürlich sind uns vor allem die Leibchen von großen Siegen oder Titelgewinnen in Erinnerung geblieben, doch auch in den großen Niederlagen stecken tolle Geschichten. Für einen Sammler wie Christian entscheiden nicht die Tabelle oder das Ergebnis über den Kauf eines Trikots. Er will sie alle haben, und deshalb sind natürlich auch die Jahre in der zweiten Liga in seinem Kleiderschrank vertreten.

Fußballfans sind Romantiker. Sie bewegen sich in der Gegenwart und schwelgen doch furchtbar gern in der Vergangenheit. Was eignet sich dazu besser als das zur Vergangenheit passende Trikot? Die schlichten weißen und blauen Trikots aus den Oberligajahren nach dem Zweiten Weltkrieg, mit denen Uwe Seeler, Gerd Krug und Klaus Stürmer zu Vereinslegenden aufstiegen. Das erste Trikot mit Werbung: 1974 war das, ein italienischer Spirituosenhersteller zahlte eine halbe Million D-Mark pro Saison dafür, dass Klaus Zaczyk oder Georg Volkert mit dem breiten „Campari“-Schriftzug auf der Brust aufliefen. Bei der Präsentation des neuen Trikots wurde den Gästen ein flugs gemischter „HSV-Cocktail“ serviert. Die „TV Spielfilm“-Leibchen aus der Spielzeit 1994/1995, in denen die Hamburger so miserabel spielten, dass der für die Fernsehzeitschrift verantwortliche Verlag in den letzten drei Saisonspielen die Nutzung der Werbung untersagte. Oder das pinkfarbene Trikot mit dem übergroßen blauen Kragen und der „Hitachi“-­Werbung. Man könnte ewig so weitermachen.

»Trikots sind wie ein gelebtes Foto, das man nicht nur ansehen, sondern auch tragen kann.«

Christian Michalkiewicz

Gut gepflegt und sie haben sogar ihren eigenen Raum: ­Hunderte HSV-Trikots aus über fünfzig Jahren Vereinsgeschichte.

Das aktuelle Trikot: eine Anspielung auf die Neunziger

Karrieren enden, Trikots bleiben. Deswegen hat Willi Schulz nie aufgehört, zu grätschen, Manfred Kaltz nie aufgehört, zu flanken, Tony Yeboah nie aufgehört, Tore zu schießen. Einer der Gründe, warum Fußballtrikots heutzutage so begehrt sind wie noch nie in der langen Liebesgeschichte zwischen Fan und Fußballverein. Das neue Heimtrikot vom HSV, eine Reminiszenz an die Mitte der Neunzigerjahre, sorgte für Rekordzahlen im Verkauf. Schon nach acht Minuten waren die ersten 1000 Jerseys vergeben, was sicherlich nicht nur mit der Euphorie nach dem lange ersehnten Wiederaufstieg zu tun hatte, sondern auch mit der gelungenen Optik. Bei einer Umfrage auf www.bundesliga.de kürten Userinnen und User das neue Leibchen zum schönsten Trikot der laufenden Saison.

Was auch zur Faszination Trikot beiträgt: Es reicht schon ein einzelnes Hemd, um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen, und es ist dabei völlig egal, ob es sich um ein Baumwollleibchen Marke Eigenbau handelt oder mal von Rafael van der Vaart getragen wurde. Zuneigung entscheidet sich nicht am Verkaufswert, und auch ein Sammler wie Christian Michalkiewicz kann nur ein Trikot tragen. Wie macht er das eigentlich bei fast 1000 Jerseys, wenn er mal wieder in Erinnerungen schwelgen oder seine Sammlung bestaunen möchte? „ Entweder schaue ich sie auf meiner Website www.1887-trikots.net oder unterwegs auf dem Handy an“, sagt er. Neulich war er mit seinen Kollegen in der Schweiz, da hat er mal wieder von seinen Trikots berichtet, Fotos gezeigt und Geschichten erzählt. Von Uns Uwe, von Michael Schröder und Campari. Und natürlich von Horst Hrubesch und Sergio Brio.