Kiez mit Kante
In Barmbek leben prozentual mehr HSV-Mitglieder als in allen anderen Stadtteilen der Metropole. Die Nähe zum Fußball und zur Raute ist spürbar im Kiez, bei den Menschen und in ihren Geschichten. Ein Spaziergang auf den Spuren der Rothosen.
Bei Fische Giesler gibt’s nur Barzahlung, seit 1919. Der Chef holt die Ware in aller früh direkt vom Fischmarkt an der Großen Elbstraße. In der Auslage: Räucherware, rund zwanzig Sorten frischer Fisch, gebratene Schollen, Fischfrikadellen, Dutzende Salate. Es ist ordentlich was los an diesem Mittwochvormittag hier im Traditionsgeschäft mitten auf der Fuhlsbüttler Straße, einer der Lebensadern Barmbeks. Hinterm Tresen steht mit zwei Kolleginnen: Ines Rogga. Ob man hier HSV-Fan sei im Fischgeschäft? „Na, was denn sonst?“, sagt die Frau mit der roten Schürze. Wie zum Beweis holt sie die Plastikente in HSV-Farben aus dem Regal. Sie hat am Vorabend im Fernsehen verfolgt, wie der HSV die nächste Pokalrunde erreicht hat. Und sie freut sich schon auf den nächsten Besuch im Volkspark. Barmbek und der HSV, das passe einfach zusammen, sagt sie. „Barmbek ist bunt, ein ehrlicher Stadtteil, mit Bodenhaftung“, sagt Rogga. Dann muss sie weitermachen. Denn das nächste Paar beäugt die Auslage und braucht frischen Fisch fürs Mittagessen.
Arbeiterviertel ist im Wandel
Barmbek ist der Rautenkiez. In keinem Hamburger Stadtteil leben prozentual mehr HSV-Mitglieder. Da passt es also, dass es spezielle Aufkleber gibt mit dieser Zuschreibung. Die kleben hier in großer Zahl auf Ampeln, Stromkästen und Regenwasserrohren. Die Aufkleber ziert die Raute, natürlich, und die Trude. Die hat 14 Meter Durchmesser, ihr Name steht für „Tief Runter Unter Die Elbe“. Denn das metallene Ungetüm war die Spitze der größten Schildvortriebsmaschine der Welt, die Ende der Neunzigerjahre die vierte Röhre des Elbtunnels bohrte. Der Tunnel geht zwar nicht durch Barmbek, aber hier steht die Trude trotzdem gut, direkt am Museum der Arbeit. Das ist in den Resten der New York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie (NYH) untergebracht, die Fabrik war lange Barmbeks größter Arbeitgeber.
Barmbek ist ein Arbeiterstadtteil. Bis in die 1860er-Jahre noch ein Dorf, wuchs die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf mehr als 100.000 an. In den 1920er-Jahren kam Barmbek-Nord als auf dem Reißbrett geplante Wohnstadt hinzu. Wie überall im Land wandeln sich die Orte, die noch vor hundert Jahren von harter Arbeit geprägt waren. Am Osterbekkanal, der die Fabriken mit dem Freihafen verband, sieht man am Ufer zahlreiche der in den vergangenen Jahren neu entstandenen Häuser: bodentiefe Fenster, hohe Quadratmeterpreise.
Frische Fische sind bei Fische Giesler in Barmbek so selbstverständlich wie die Leidenschaft für den Hamburger SV. Da werden keine Kompromisse gemacht, sagt Ines Rogga.
Mario Bäumer ist Historiker und Leiter des Fachbereichs Ausstellungen im Museum der Arbeit. Und ein großer Fußballfan ist er auch.
Fußball und die Arbeiterschaft – das passte zusammen
Im Museum der Arbeit hat Mario Bäumer am Vortag gerade eine neue Ausstellung über Care-Arbeit eröffnet. „Wir dokumentieren hier im Museum nicht die Veränderungen im Arbeiterviertel Barmbek – aber wir kriegen sie natürlich mit“, sagt Bäumer. Der Mann mit der markanten schwarzen Rundbrille ist nicht nur Historiker und Leiter des Fachbereichs Ausstellungen, er ist auch Fußballfan, war als Kind begeistert von Felix Magath und schafft heute den Spagat, Pauli und den HSV zu unterstützen und noch eine Inklusionsmannschaft beim Eimsbütteler TV (ETV) zu trainieren. Er sagt: „Die Entwicklung des modernen Fußballs ist ja eng mit der Arbeiterschaft verbunden.“ Dieser neue Fußball entstand im 19. Jahrhundert parallel zur Industrialisierung – in den Städten, wo Fabriken, Arbeiter und Freizeit erstmals zusammentrafen. Arbeiter gründeten Vereine, um in ihrer knappen Freizeit gemeinsam Sport zu treiben, und sie gaben dem Spiel seine soziale Basis. „Aus Werksmannschaften und Arbeitersportvereinen wuchs ein Massenphänomen“, sagt Bäumer. Das stiftete Identität und Gemeinschaft, Fußball wurde zur „Sportart der kleinen Leute“ – und zum Spiegel der neuen Arbeiterkultur. Und als die Arbeiterbewegung in England den freien Samstagnachmittag erkämpfte, war das Kulturphänomen „Auswärtsfahrt“ geboren. Denn die Arbeiter konnten nach Ende der Schicht noch rechtzeitig zum Bahnhof, um ihr Team auch beim Auswärtsspiel zu unterstützen.
Mit dem Archivar Christoph Raneberg hat Kurator Bäumer im Archiv auch ein paar Hinweise auf den HSV gefunden, darunter eine Festschrift zum siebzigsten Geburtstag des Vereins, in schützender Folie verpackt. Aber im Museum der Arbeit bestimmt der Arbeiterfußball. Trikots von Werksteams gibt es hier genauso wie Pins mit den Wappen, einzeln gestanzt in der Metallwarenfabrik Carl Wild, deren Maschinen man direkt im Eingangsbereich des Museums bestaunen kann. Auch der HSV, zunächst eher vom bürgerlichen Milieu getragen, öffnete sich spätestens mit den großen Erfolgen und durch den Aufstieg des Fußballs zum Massenphänomen auch der Arbeiterschaft. Die HSV-Fankultur ist heute untrennbar mit dem Image Hamburgs als Hafenstadt und dem dazugehörigen rauen, bodenständigen Arbeitermilieu verbunden. Museumskurator und Fußballfan Bäumer überlegt lange bei der Frage, wie viel vom Geist der Arbeiter noch in heutigen Stadien zu finden ist. „Nun, der Fußball ist ja heute extrem kommerzialisiert. Da ist der Bezug auf die Arbeiterschaft wohl eher Folklore, aber das kann natürlich auch Spaß machen“, sagt er, und lacht.
»Fußball ist heute extrem kommerzialisiert. Und der Bezug auf die Arbeiterschaft wohl eher Folklore, aber das kann natürlich auch Spaß machen.«
Mario Bäumer
Nur der HSV – das gilt in Barmbek gleich doppelt
Fußball in Barmbek – das ist im doppelten Sinne nur der HSV. Denn neben dem großen Klub mit der Raute bestimmt ein anderer HSV das sportliche Leben im Stadtteil. Rund neunzig Jahre spielte der HSV Barmbek-Uhlenhorst, in der Hansestadt als BU bekannt, auf dem Wilhelm-Rupprecht-Sportplatz nahe der U-Bahn-Station Habichtstraße. Manche nennen den Platz bis heute „Barmbeks Anfield“ – ein Verweis auf Liverpools legendäres Stadion. Andreas Brehme startete hier seine Karriere, die HSV-Idole Charly Dörfel und Willi Giesemann ließen sie hier ausklingen. Doch manche Geschichte hat ein Ende – denn 2015 wurde das marode Stadion abgerissen, machte für Wohnungen Platz.
Beim letzten Spiel, einem Derbysieg gegen Altona 93, war auch Lotto King Karl dabei. Nach dem Abpfiff schob man ihn und seine Band, die Barmbek Dream Boys, im geschlossenen Lkw-Anhänger auf den Platz. „Plane hoch – und dann ging die Show ab“, sagt Lotto. Gut zehn Jahre nach dem Abriss steht er auf der Tribüne des neuen Stadions an der Dieselstraße. Zu BU geht er schon, seit er ein Kind war. „Wer Bock hatte auf einen Bänderriss, der war im alten Stadion genau richtig“, sagt er und lacht. Marco Peters, erster Vorsitzender bei BU, hat für Lotto aufgeschlossen. Ein paar orangerote Blätter segeln auf den mattgrünen Kunstrasenplatz. Alles hier ist neu – aber das Eingangstor und die schmiedeeisernen Fenstergitter mit dem Vereinswappen hat man in das neue Stadion eingebaut, in der Tribüne Ziersteine in Backsteinoptik, die an die im Stadtteil vorherrschenden Backsteinbauten erinnern sollen. Lotto war länger nicht hier, gefühlt ist es trotzdem sein Stadion. „Bei BU ist immer was los, immer Stimmung, immer normale Leute“, sagt er. Schnitzel im Brot, bisschen was rufen, Spaß haben. „Das ist einfach ein bunter Haufen hier – das ist Erdung“, sagt er.
Lotto King Karl ist in Barmbek aufgewachsen. „Irgendwann sind wir dann das erste Mal auf die Westkurve im Volkspark, das erste Mal raus aus dem Stadtteil“, sagt Lotto und lacht. Da merkte er auch das erste Mal, dass manche etwas auf die Jungs aus Barmbek herabschauten. Der HSV wurde zu einer zweiten Heimat. Und auch beruflich ging es zunächst erwartbar los. Wie der Vater machte er eine Ausbildung bei einer Bank und wurde Offizier bei der Marine. Doch dann setzte sich der Schalk durch. Der begnadete Schnellredner, ein Derwisch am Mikro, nannte sich fortan Karl König, Lottogewinner, und so machte Lotto King Karl Karriere als Sänger, Moderator, Kultfigur, war jahrelang Stadionsprecher des HSV und eröffnet bis heute die Konzertsaison auf der Stadtparkbühne.
Lottos großes Idol ist Andreas Brehme. Der lernte das Kicken bei BU, sein Vater Bernd, Spitzname Eisenfuß, war hier lange Trainer und brachte den Sohn zu dessen legendärer Beidfüßigkeit. Brehme, der Hamburger Jung, ist nie zum großen HSV gekommen. Als BU im Jahre 1967 seinen Rasenplatz einweihte, war der Bundesligist zu Gast. Der kleine Andreas Brehme, gerade sechs Jahre alt, überreichte dem großen Uwe Seeler damals vor dem Spiel einen Wimpel. Denn der Knirps war in Barmbek schon eine kleine Berühmtheit – jonglierte er den schweren Lederball doch in den Halbzeitpausen der Herren unter dem Applaus der Zuschauenden. Später trainierte er beim HSV zur Probe – ohne Interesse zu wecken. Felix Magath vermittelte ihn dann nach Saarbrücken – der Rest ist Geschichte.
Lotto King Karl hat Andreas Brehme mehrere Gospels gewidmet. Irgendwann meldete sich der Manager des bodenständigen Weltstars. Ob Lotto nicht Brehmes Buch „Beidfüßig: Von Barmbek bis San Siro“ für die Hörversion einsprechen wollte? Wollte er. Ab da schrieben sich die beiden Barmbeker regelmäßig Nachrichten, auch mal Persönliches, berichtet Lotto King Karl. „Als Andy letztes Jahr gestorben ist, das war ein Schock“, sagt er. Kurzes Schweigen, dann ist der ehemalige Stadionsprecher des HSV wieder kaum zu stoppen, wie immer, wenn er ins Erzählen kommt über den großen HSV und den kleinen HSV aus Barmbek. Er erzählt von den Auftritten von Kultmasseur Hermann Rieger bei seinen Konzerten, wie er mal einen Spielerberater aus dem BU-Stadion motzte, der ein Talent abwerben wollte, wie ihn der Vater ehrfurchtsvoll anschaute, als er verstand, wie gut Lotto die Legende Uwe Seeler kannte.
Einer der beliebtesten Songs von Lotto King Karl ist „Mitten in Barmbek“. Der Titel steht auch über dem Stadioneingang bei BU, ein paar Meter neben dem Wandbild von einem Spieler mit der Nummer drei, der gerade einen Elfmeter mit rechts ins linke untere Eck schießt – der Treffer im WM-Finale 1990, der Brehme unsterblich machte. Lottos Song endet mit der schönen Zeile: „Keine Heimat, für die ich mich schäme, denn aus Barmbek kommt auch Andy Brehme.“
Zum Abschied zeigt Lotto noch auf einen Wohnblock. Und er erzählt, wie gut und oft man sich in Barmbek verlaufen kann, weil sich so viele Häuser mit ihren roten Backsteinfassaden ähneln. „Das ist zu Hause, einfach normale Leute hier“, sagt Lotto.
»Wer Bock hatte auf einen Bänderriss, der war im alten Stadion genau richtig.«
Lotto King Karl
Beim Verein Uhlenhorst geht es ebenso rustikal zu.
Immer was los bei Barmbek-Uhlenhorst: Lotto King Karl ist im Stadtteil aufgewachsen und schaut auch heute noch bei Spielen des Vereins vorbei.
In Barmbek wird sogar das Schneidrad eines Elbtunnelbohrers zu einem Kunstgegenstand.
Eine Kneipe von Nachbarn für Nachbarn
Dass sich Lotto als Kind hier in Barmbek gut verlaufen konnte, versteht man beim Schlendern durch den Stadtteil. Geht man von BU durch Nebenstraßen, vorbei an wirklich unzähligen Häusern aus rotem Backstein, steuert man auf einen Ort zu, der auch als Museum taugen würde – aber quicklebendig ist: die Capri-Stube. Heiner Tiling steht hinter dem geschwungenen Tresen. „Bierchen?“, fragt er und schenkt sich und dem Besuch Moravia Pils in die großen Glaskrüge. Moravia, das alte Hamburger Traditionsbier, das nach ein paar Umwegen heute wieder in der Hansestadt gebraut wird. Tiling ist hier weder Wirt noch einfacher Gast, er nennt sich gern den Organisator im Hintergrund. Als die Wirtin aus Gesundheitsgründen kürzertreten muss, steigt er mit einem Kumpel ein. Sie bestellen die Getränke, stellen Personal ein, machen Dienstpläne und Abrechnungen. „Das ist eine Kneipe von Nachbarn für Nachbarn“, sagt Tiling. Ist das Wetter gut, gibt es hier „Grillen und chillen“. Essen darf die Raucherkneipe nicht verkaufen, aber einen Grill aufstellen, das ist erlaubt – und die Gäste können Grillgut mitbringen. Vor den Fenstern hängen Gardinen, an den Wänden hängt praktisch überall etwas mit HSV-Geschichte, am Stammtisch direkt hinter der Tür stehen die Autogrammkarten von Helden wie Seeler, Magath oder Hrubesch. Und hinter dem Tresen gibt es auch den HSV-Cocktail, nach einem Rezept von Campari, dem ersten Trikotsponsor des HSV. Hochprozentiges, Sekt, O-Saft, Eis – fertig.
Heiner Tiling ist HSV-Fan, seit er Rudi Kargus einen Elfmeter halten sah und wie verliebt war in den Sport und diesen so stolzen Verein. Seit elf Jahren steht Tiling bei Heimspielen auf der Nord. „Mein Herz ist beim HSV“, sagt er. Doch die Zecken, wie er die Paulianer knurrig-liebevoll nennt, dürfen hier auch rein, können die rechte Seite der Kneipe gestalten. „Wollen sie mehr, gibt’s Ärger“, sagt Tiling, und lacht.
Mit der „Wir machen es selbst“-Einstellung hat die Nachbarschaft den Laden gerettet. Seitdem läuft eine der letzten Gardinenkneipen der Stadt wieder. „Das ist wirklich ein Treffpunkt für Jung und Alt“, sagt Tiling. Er ist sicher: „Kneipe ist besser als ihr Ruf.“ Damit meint er nicht explizit die Capri-Stube, sondern die Kneipe an sich als Ort des Miteinanders. Und auf eines ist er besonders stolz: Spielt der HSV, ist die Kneipe deutlich voller als bei Spielen des Rivalen vom Millerntor.
»Die Kneipe ist wirklich ein Treffpunkt für Jung und Alt im Viertel.«
Heiner Tilling
Auch in der Capri-Stube spielt Lotto King Karl mit – auf der Jukebox läuft passenderweise „Mitten in Barmbek“.
Heiner Tilling drückt dem HSV bei Spielen die Daumen.
Der Capri-Stube droht der Abriss
Alles gut also im Rautenkiez Barmbek? So einfach ist es nicht. Der Flachbau mit der Kneipe und auch die Gebäude drumherum sind in die Jahre gekommen. Wie man im Viertel hört, plant ein Investor einen Neubau an derselben Stelle. Gentrifizierung? Das ist Tiling zu einfach. „Die Bausubstanz ist schon marode, da muss was gemacht werden“, sagt er. Kommt der Abriss, würde die Capri-Stube ihr Zuhause verlieren. Und nun? „Wir wollen diesen Ort retten, die Kneipe zur Not einlagern. Aber wir brauchen einen neuen Ort – am liebsten im Neubau“, sagt Tiling. Gute Worte gibt es viele, auch aus der lokalen Politik. Noch besser wäre Geld, sagt Tiling. „Aber als HSV-Fan kann man ja schon auch mal was aushalten“, sagt er.
»Als HSV-Fan kann man ja schon auch mal was aushalten.«
Heiner Tilling