Mandarinen
für Romeo
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Zum HSV kam ich in den frühen Neunzigern in Heidelberg. Ein Freund hatte mich – einen bosnischen Flüchtling – zu einem Auswärtsspiel nach Karlsruhe mitgenommen, es tat gut, kurze Zeit nach der Flucht etwas zu tun, das nichts mit der Flucht zu tun hatte, etwas Normales, Banales, eben: Das Johlen mit Fremden für ein gemeinsames Ziel. Und wir verloren trotzdem.
Egal – als HSV-Fan muss man eben früh verlieren lernen.
Ich blieb der Mannschaft treu, Barbarez kam und beflügelte meine Begeisterung, an Wochenenden saß ich zum Anstoß in irgendwelchen Heidelberger Kneipen und hoffte, dass sich nicht viele andere Gäste einfanden, um nicht Konferenz gucken zu müssen. Meist war ich allein, in Heidelberg interessiert man sich nicht so für Fußball und schon mal gar nicht für die Rothosen.
»Bernardo Romeo, ein Stürmer, immens schlecht am Ball, immens gut vor dem Tor.«
2002 wechselte Bernardo Romeo zum HSV, ein Stürmer, immens schlecht am Ball, immens gut vor dem Tor – ein damals schon eigentlich aus der Zeit gefallenes Exemplar eines, wenn überhaupt, dann schlecht mitspielenden Strafraumtänzers. Der aber eben seine Kisten machte und 2002 und 2003 sogar die meisten für den Verein.
Er lief immer irgendwie so leicht vorgebeugt über den Platz, verhuscht und fast träge, aber sollte er in der Nähe des Elfmeterpunkts irgendwie an den Ball kommen, dann kriegte der Ball irgendwie meist auch Lust, sich torgefährlich auf die Reise zu machen. Romeo zuzuschauen war zugleich nervig und erfreulich – die beste Mischung beim Fußballgucken, wenn wir ehrlich sind.
Romeo hatte permanent Rücken. Im Dezember diagnostizierte man dazu einen Bandscheibenvorfall und ich erfuhr zufällig, dass er operiert werden sollte, und zwar – in Heidelberg. Heute würde man diese Infos wohl gar nicht preisgeben, damals war es ein Leichtes, nachzulesen, der Eingriff würde in der Heidelberger Atos-Klinik stattfinden, und auch der OP-Termin stand schon fest.
Und ich dachte: Hier liegt er also nun, der kleine Argentinier, allein und weit weg von seiner Heimat und seinen Liebsten, in einer deutschen Klinik, geschwächt und gelangweilt. Also beschloss ich, ihn zu besuchen, rief in der Klinik an. Ob ich Familie sei? Nein – egal, kommen Sie vorbei.
Und das tat ich auch, ich kam vorbei, und weil ich nicht mit leeren Händen vorbeikommen wollte, kaufte ich drei Kilo Mandarinen. Weil jeder Mandarinen gern mag und Mandarinen so gut riechen und ein Kilo erschien mir irgendwie wenig, zwei nicht so lustig, und so also, mit so einer riesigen braunen Papiertüte voller Mandarinen, betrat ich die Klinik. Der Empfang orientierte mich zu Romeos Zimmer, da stand ich nun vor der Tür und musste mit dem Fuß klopfen, umständlich und zu laut, aber dieser Mandarinensack war derart riesig, dass er meine beiden Arme beanspruchte. Ich kam mir ein wenig vor wie Romeo, wenn er zu einem Dribbling ansetzte – es sah nicht gut aus und ging meistens schief.
Ich meinte, ein Geräusch zu hören, und drückte – mit dem Ellbogen – die Klinke runter.
Circa zwölf neugierige argentinische Augen sahen mich interessiert an. Romeo war nicht allein, seine – ich vermute – Verwandten hatten sich gemütlich bei ihm im Zimmer eingerichtet, auch ein Kind war dabei und grinste mich, der hinter den Mandarinen nun doch sehr nervös lugte, an.
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad, Bosnien-Herzegowina, geboren. Als Vierzehnjähriger kam er nach Heidelberg. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Stanišić hat mehrere Preise erhalten. Seine Werke wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg. Seine größte Leidenschaft neben der Literatur sind der Fußball und der Hamburger SV.
Es war ja offensichtlich, warum ich da war, ich sagte es aber trotzdem. „Buenos días“, sagte ich, „ich hab’ Mandarinen gebracht.“
Die Stimmung war sofort ausgelassen. Ein älterer Mann eilte mir entgegen, um mich freundlich von dem Turm in meinen Armen zu befreien, eine jüngere Frau winkte mich herbei zum Bett, in dem der etwas verwirrt dreinblickende Bernardo Romeo lag.
„Großer Fan!“, rief ich.
„Von Mandarinen?“, rief der alte Mann.
Wir lachten, vielleicht, ich war zu aufgeregt, um alles wahrzunehmen, ich wünschte – während es schon angenehm nach Mandarinen zu riechen begann – unserem Stürmer eine gute und schnelle Besserung, „dass du uns wieder schnell ein paar Dinger knipst“, sagte ich, was niemand verstand, vermutlich, aber vielleicht doch.
Mein erstes Heimspiel des HSV fand knapp ein Jahr später statt – im November 2003. Es ging gegen 1860 München. Dort zu sein, im Volkspark, irgendwas kam für mich zusammen, irgendwas erfüllte sich, und ich rede nicht von Träumen oder Wegen, ich wollte mal „da sein“, nun war ich es, und ich genoss es sehr, und unglaublich: die Mannschaft spielte gut, gewann 3:1.
Bernardo Romeo schoss zwei Tore. Hätte ja auch anders kommen können, wenn ich ihm damals nicht die Mandarinen gebracht hätte.
(Dieser Text ist ursprünglich in der HSV-Fibel erschienen.)
»Buenos días, ich habe Mandarinen mitgebracht.«