TRIBÜNE

Hilal

Interview: Maike Lakenmacher und Felix Rehr

Die Suche nach Hilal

Wie fühlt es sich an, wenn die kleine Schwester spurlos verschwindet und niemand weiß, wo sie ist? Wenn jegliche Suche seit Jahrzehnten erfolglos bleibt? Ein Gespräch mit Abbas Ercan.

Foto: privat

Am 27. Januar dieses Jahres jährte sich das Verschwinden von Hilal ­Ercan zum 26. Mal. Kurz vorher hat sich Abbas Ercan, Hilals großer Bruder, beim Supporters Club gemeldet. Er ist HSV-Fan und -Mitglied und sucht weiterhin nach einer Antwort auf die Frage, was seiner Schwester im Jahr 1999 zugestoßen ist.

Abbas, du hast einmal gesagt, du hättest das Gefühl, dass deine Schwester dir immer noch jeden Tag über die Schulter schaut. Wie präsent ist deine Erinnerung an Hilal?
Die Erinnerung an meine Schwester ist nie erloschen, auch wenn ich mein Leben irgendwie weitergelebt habe. Hilal war hilfsbereit, selbstbewusst und lebensfroh. Man wusste, dass einmal etwas aus ihr werden würde. Von uns drei Geschwistern war sie die Reifste und Vernünftigste. Für meine jüngste Schwester war sie fast so etwas wie eine Mutter. Sie hat sie regelrecht miterzogen. Aber leider ist es anders gekommen und Hilal wurde aus dem Leben gerissen.

Du sprichst über den 27. Januar 1999. Wie hattet ihr damals gemerkt, dass etwas nicht stimmte?
An dem Tag gab es Zeugnisse und ich war nach der Schule bei einem Freund, um Playstation zu spielen. Noch heute mache ich mir Vorwürfe vielleicht hätte ich etwas verhindern können, wenn ich direkt nach Hause gegangen wäre. Als ich gegen 15 Uhr dort ankam, habe ich meine Eltern unten vor dem Haus stehen sehen. Da war richtig Panik ausgebrochen, weil Hilal nicht vom Einkaufen zurückgekommen war. Wir fragten Nachbarn und Klassenkameraden, aber niemand wusste etwas. Gegen 18 Uhr riefen wir dann die Polizei.

Wie liefen die ersten Ermittlungen ab?
Ich war damals selbst erst zwölf Jahre alt, daher erinnere ich mich nicht an alles. Aber ich weiß noch, dass zwei Busfahrer befragt wurden und die Polizei nach einem großen, rotblonden Mann suchte, der auf dem Parkplatz der Passage ein dunkelhaariges Mädchen am Arm gepackt haben soll. Außerdem berichtete eine Zeugin, einen Schrei gehört zu haben.

Abbas Ercan vor einem Zeugenaufruf auf einem HVV-Linienbus.

Foto: privat

Wurden Verdächtige gefunden?
2005
und 2006 gestand ein Mann die Tat doch er zog das Geständnis jeweils wieder zurück. Eine Leiche wurde nie gefunden. Zudem gab es einen weiteren Verdächtigen.

Wie hat sich das Verschwinden von Hilal auf eure Familie ausgewirkt?
Neben dem Schmerz über Hilals Verschwinden mussten wir auch mit falschen Verdächtigungen umgehen. Aussagen meiner Oma, die nicht gut Deutsch sprach, führten dazu, dass die Polizei zeitweise glaubte, unsere Familie habe Hilal in die Türkei gebracht. Das ist natürlich nicht wahr aber diese Spekulationen brachten uns auch Hass ein. Es war eine schreckliche Zeit für uns.

Gab es über die Jahre Wendepunkte oder Hinweise, die euch besondere Hoffnung gegeben haben?
Ja, es gab einen Anruf. Ein Mann behauptete, dass er etwas über das Verschwinden meiner Schwester wisse und dass er sich mit meinen Eltern beim U-Bahnhof Christuskirche treffen wolle. Mein Vater fuhr mit meinem Onkel zu dem Treffpunkt aber genau an dem Tag war bei der gegenüberliegenden Bankfiliale ein großer Polizeieinsatz. Vielleicht war der Mann dadurch abgeschreckt, er tauchte auf jeden Fall nicht auf und meldete sich nie wieder. Wir hatten uns so viel von diesem Anrufer erhofft. Ich wünsche mir immer noch, dass dieser Mann sich noch einmal meldet.

„Die Erinnerung an meine Schwester ist nie erloschen.“

Abbas Ercan

In den Jahren 2005 und 2018 wurde im Altonaer Volkspark nach Hilal gesucht, 2021 dann erneut. Warum?
Als der Mord 2005 gestanden wurde, wurde angegeben, dass Hilal im Volkspark vergraben worden sei. Doch die Suche wurde abgebrochen. Im Jahr 2018 wurde der Fall dann im Rahmen einer Cold-Case-Ermittlung neu aufgerollt leider ohne Ergebnis. Aber auch im Rahmen dieser Ermittlung suchte die Polizei mit großem Aufgebot im Volkspark. Zuletzt wurde dort 2021 gesucht, nachdem ein privat organisierter Spürhund anschlug, der auf archäologische Funde spezialisiert war.

Wie geht ihr heute mit der Ungewissheit um?
Wir haben keine Hoffnung mehr, dass sie lebt, sondern gehen vom Schlimmsten aus. Aber wir möchten gern abschließen können und dass der Täter seine gerechte Strafe bekommt. Ich glaube an Karma.

Was gibt dir noch Hoffnung, Antworten zu bekommen?
Ich hoffe immer noch darauf, das fehlende Puzzleteil zu finden. Dass sich vielleicht doch noch jemand meldet, der damals nichts gesagt hat aus Angst oder Unwissenheit. Vielleicht ein Mitwisser oder sogar der Täter. Wir wollen keine Rache, sondern einfach nur unseren Frieden. Wir möchten Hilal begraben können und endlich einen Abschluss finden.

Warum ist es dir wichtig, dass Hilals Geschichte im HSV-Umfeld erzählt wird?
Wir sind Hamburger, und ich hoffe auf die Solidarität der HSV-Fans. Ich bin selbst HSV-Mitglied und der Fußball hat eine große Reichweite. Vielleicht erinnert sich doch noch jemand an etwas und kann uns helfen.

Gibt es etwas, das unsere Leser:innen tun können, um dir und deiner Familie konkret zu helfen?
Das Wichtigste ist: Falls sich jemand an etwas erinnert, soll er oder sie sich melden. Jede noch so kleine Information kann helfen. Ansonsten würde ich mich über eine Spende für den Verein Opferinteressen von Kindern e.V. freuen. Er wurde von Jasmin Hauck, einer Freundin unserer Familie, gegründet und arbeitet eigenständig. |

Sachdienliche Hinweise bitte ans LKA Hamburg. Für den entscheidenden Hinweis, der zur Lösung des Falls führt, ist eine Belohnung von 20.000 Euro ausgesetzt. Weitere Informationen zu dem Fall gibt es zum Beispiel auf Abbas’ Facebook-Seite „Die Suche nach Hilal“.

Chronologie

Hilal wird am 22. September 1988 in Hamburg geboren. Sie wächst mit ihrer kleinen Schwester, ihrem großen Bruder Abbas und ihren Eltern in Hamburg-Lurup auf.

Am 27. Januar 1999 darf sich die Zehnjährige in der dem Wohnhaus gegenüberliegenden Elbgaupassage Süßigkeiten kaufen. Gegen 13.15 Uhr verlässt sie ihr Elternhaus.

Kurz darauf, um 13.22 Uhr, wird im Supermarkt Spar in der Elbgaupassage eine Packung Hubba Bubba Cola für genau eine Mark verkauft Hilals Lieblingskaugummi.

Gegen 18 Uhr beginnt die Polizei mit einer Suchaktion in der Um­gebung ohne Erfolg.

Während der anschließenden Ermittlungen berichtet ein Busfahrer, zum Zeitpunkt von Hilals Verschwinden einen groß gewachsenen, rotblonden „Wikingertypen“ auf dem Parkplatz der Elbgaupassage gesehen zu haben. Dieser soll ein dunkelhaariges Mädchen am Arm gezogen haben. Eine Frau gibt zudem an, einen lauten Schrei ­gehört zu haben.

Die weiteren Ermittlungen verlaufen erfolglos, bis im Jahr 2005 ein Mann, der in der geschlossenen Psy­chiatrie der AK Nord Ochsenzoll untergebracht ist, die Tat gesteht und behauptet, Hilal im Altonaer Volkspark vergraben zu haben. Kurz danach widerruft er sein Geständnis, eine Leiche wird nicht gefunden.

Im Jahr 2006 gesteht derselbe Mann erneut. Dieses Mal behauptet er, Hilal in der Rissener Kieskuhle vergraben zu haben. Wieder bleibt die Suche erfolglos, das Geständnis wird erneut zurückgezogen.

Im Jahr 2011 wird der Fall in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY… ­ungelöst“ vorgestellt.

Von 2016 bis 2018 befasst sich die neu gegründete Ermittlungsgruppe Cold ­Cases mit dem Fall Hilal. Mithilfe von Plakatkampagnen sucht sie nach Hinweisen. Ein Waldstück im Volkspark wird durchkämmt ohne Ergebnis.

2021 gründet Jasmin Hauck, eine Freundin der Familie Ercan, den Verein Opferinteressen von Kindern e.V., um die Suche nach Hilal weiterzuverfolgen.

Ein Jahr später schlägt ein vom Verein organisierter Spürhund in einer Kleingartenanlage im Volkspark an. Trotz intensiver Suche wird nichts gefunden.

Im Sommer 2022 verfolgt die Polizei eine neue Spur und durchsucht ein Waldstück in Norderstedt erfolglos.

Im September 2022 erscheint in der ARD die Dokumentation „Wo ist Hilal?“.

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