TRIBÜNE

Abschlach!

Interview: Vera Schankath · Fotos: Marco J. Drews

„Sind die Zeiten auch oft schwer, weiß ich doch, hier gehör ich her“

Die sechs HSV-Rocker von Abschlach! sprechen im Interview mit der supporters news über 15 Jahre Bandgeschichte – eine „Geile Zeit“.

Sechster September 2018: Ihr Soundcheck in der Großen Freiheit 36 ist gerade durch. Zwei Stunden bevor sie auf die Bühne springen, sitzen die Abschlach!-Mugger Michi, Tom, Muchel, Boris, Sven und Tobi entspannt bei Alster und Nudeln im Backstagebereich des legendären Kiezclubs. Michi organisiert letzte Details vor dem großen Jubiläumskonzert. Draußen gehen Karten für über 100 Euro auf dem Schwarzmarkt weg. Zeit für ein Gespräch mit der Band über 15 Jahre Punkrock.

Die Große Freiheit, seit Monaten ausverkauft, über anderthalbtausend Tickets – seid ihr aufgeregt?

Muchel: Ja, sicherlich, das ist unser größtes Konzert. Wir haben zwar schon vor mehr Leuten gespielt, aber das waren keine reinen Abschlach!-Veranstaltungen. Und meine fünfjährige Tochter ist zum ersten Mal dabei. Deswegen bin ich noch aufgeregter. Sie kann alle Lieder von uns auswendig.

Boris: Heute ist es ein anderes Gefühl. Die Leute kommen wegen unserer Performance. Das erzeugt Spannung. Sonst sind wir ja Teil von etwas, zum Beispiel der HSV-Saisoneröffnung oder der 125-Jahr-Feier des Vereins.

Wie unabhängig vom HSV ist eure Musik?

Boris: Wir haben ja nicht nur HSV-Songs. Klar dreht sich vieles um die Rothosen, und das ist in der Fan­szene angesehen. Aber wir haben auch Stücke, die allgemein von Fans handeln, wie „Reclaim the Game“ oder „Getrennt in den Farben“.

Michi: Bekannt geworden sind wir durch die Sta­dion­songs. Aber einige Fans kennen uns viel länger. Wir machen Musik für Leute, die sind wie wir, sind selbst in der Szene und fahren zum Fußball. Ich wünsche mir dennoch, dass unsere Musik auch eigenständig wahrgenommen und nicht nur im Sportteil der Zeitungen besprochen wird.

Habt ihr Fans aus anderen Vereinen?

Tom: Wir stehen für Fußballfankultur, das funktioniert unabhängig vom Verein. Entstanden sind wir aber aus unserer Liebe zum HSV.

Muchel: Ich weiß, dass heute Leute aus Nürnberg, Dortmund und Darmstadt da sind.

Fußball und Hamburg beiseite – wo ist die Schnittmenge?

Boris: Für normale Leute? (lacht) Wir achten schon darauf, dass unsere Songs mitten aus dem Leben kommen. Zum Beispiel „Wie seit Jahr und Tag“. Das sind Texte, mit denen man auch so etwas anfangen kann.

Sven

Tom

Michi

Boris

Muchel

Tobi

Wie entstehen die Texte? Wie schreibt ihr eure Songs?

Boris: Ich schreibe die Songs. Erst habe ich die Melodie, dann setzt sich alles stückchenweise zusammen. Manchmal liegt ein Song zwei Jahre rum, es sind drei Zeilen da, und irgendwann spiele ich ihn bei unseren Proben vor. Dann gucken mich die anderen fünf Bandmitglieder an und sagen: Was ist das für eine Suffsache? Wir grooven uns zusammen und es kommt eine klassische Abschlach!-Nummer dabei heraus.

Michi: Gelegentlich kommen Leute und sagen: Macht doch eine Coverversion oder singt mal über dieses oder jenes Thema. Das machen wir nicht. Wir machen unsere eigenen Songs.

Boris, hast du immer neue Songs im Kopf?

Boris: Ja, gerade bestimmt zwanzig einzelne Fetzen. Die verfestige ich mit meiner Gitarre und einem alten Notizbuch. Dann nehme ich mit dem iPhone erste Ideen auf.

Sven: Boris bereitet die Songs recht weit vor. Im Probenraum wachsen sie dann in die Band rein.

Wie viele Stücke habt ihr im Repertoire?

Boris: Ich habe das kürzlich gezählt. Seit der ersten Scheibe sind es 76.

Wer von euch war schon vor 15 Jahren dabei?

Tom: 2003 waren es Boris, Michi, Henning und ich. Alles begann mit dem ersten Auftritt zum zehnjährigen Bestehen des Supporters Clubs auf der „Cap San ­Diego“. Das war gleich vor 3000 Leuten. Wir hatten vier, fünf Songs.

Wenig später kamen Muchel, Sven und Tobi dazu. Wir waren eine echte Keller-Rumpel-Spaß-Kapelle. Ich habe zu dieser Zeit auch noch Hardcore mit Michi bei Vindicator gemacht.

Boris: In den Neunzigern habe ich mit Henning im Partykeller Musik gemacht. Da ist auch der Song „1000 Meilen“ entstanden. Weil wir nur zu zweit waren, musste ich singen. Henning hat seine Gitarre wie einen Bass gespielt. Das haben wir mit Drum-Computer im Hintergrund auf Kassette aufgenommen. „Er kam, sah, siegte“ hieß sie. Gibt es als Bonustrack auf der Abschlach!-CD „Meist kommts anders“ (2015). Irgendwann rief Henning an und sagte: Wir gründen jetzt ’ne Combo, und die soll Abschlach! heißen. Er ist nach dem dritten Album ausgestiegen.

Ist einer von euch von Haus aus Musiker?

(alle lachen) Muchel: Nein, wahrlich nicht. Wir sind Hobbymusiker und haben andere Berufe. Manchmal sagen die Leute: Ey, ihr seid doch von Abschlach!, müsst ihr denn noch was Normales machen? So gern wir von unserer Musik leben würden, davon sind wir so weit entfernt wie der HSV im Augenblick von der deutschen Meisterschaft.

Boris: Im Studio merken wir den Unterschied zu den Profis. Die sagen dann zum Beispiel „Deine Gitarre ist nicht bundrein“ oder „Die H-Seite klingt nicht“. Aber wir machen doch Punkrock!

15 Jahre Bandgeschichte im Schnelldurchlauf?

Boris: Der Name war da. Plötzlich waren wir zu viert im schimmligen Keller vom Jugendhaus Bramfeld. Keine Schülerband mehr, ich war 35. Es hat einfach immer mehr Spaß gemacht, es wuchs und wuchs. Kann man schlecht beschreiben, ein kleines Wunder. Wir sind total stolz darauf, dass es so gehalten hat. Für die ersten Alben saß Michi noch am Schlagzeug.

Welches waren eure schönsten Bandmomente bisher?

Muchel: Es gibt unglaublich viele. Live zu spielen ist immer cool. Ein fertiges Album in den Händen zu haben ist auch grandios. Toll sind auch diese kleinen Konzerte, wenn wir über die Dörfer tingeln und Fanclubs besuchen, die jahrelang darauf gespart haben, uns zu buchen, und die Fanclubkasse auf den Kopf hauen. Es ist unglaublich, mit welcher Herzlichkeit wir empfangen werden.

Boris: Da erleben wir die HSV-Familie. Wir werden oft liebevoll bekocht. Das sind für mich die schönsten Momente. Manchmal denken die Fanclubs, sie müssten keine Promotion für uns machen. Stimmt aber nicht, denn deshalb waren wir auch einmal fast mehr Leute auf der Bühne als davor. Aber wir spielen trotzdem tolle Gigs.

Setlist vom 6. September 2018

Welche Anekdoten erzählt ihr immer wieder?

Boris: Michi ist mal, weil wir schnell zu einem Gig mussten, durch eine Absperrung gefahren, und wir haben mit dem Bandbus eine Straße demoliert. Die Straßenarbeiter sagten: „Frisch geteert. Das kostet fünf Millionen.“ Das war 2012 irgendwo in Niedersachsen. Das Navi hat uns da lang gelenkt. Wir haben aber nie wieder was von den fünf Millionen gehört.

Sven: Wir hatten vor drei Jahren mal ein Nummerngirl für einen Auftritt in der Hamburger Markthalle. Das hat ein Schild herumgetragen, auf dem „Zugabe“ stand. Weil die Leute meistens vergessen, Zugabe zu rufen. Normalerweise rufen wir es selbst und kommen zurück auf die Bühne.

Was sind besonders schöne Fanbegegnungen?

Michi: Wir kriegen hin und wieder Fanpost von Menschen, die sich unser Logo oder Textzeilen tätowieren lassen. Das ist schon besonders. Wir haben auch mal für eine Hochzeit auf einer Barkasse gespielt. Da konnte keiner weg. (lacht) Es hat großen Spaß gemacht. Und ein Paar aus Nürnberg hat auf seiner Hochzeitseinladung „Mädchen aus Bramfeld“ zitiert. Das war auch toll. „Doch du hast in mein Herz gesehen …“ Wir haben uns mit Videogruß, Poster und Konzerttickets bedankt.

Boris: In Nürnberg haben wir sowieso eine gute Fanbase. 2012 sind wir auf Einladung eines Nürnberg-Fans dort aufgetreten. HSV-Songs hatten wir vorab von der Setlist gestrichen. Die Nürnberger haben sich dann beschwert, dass wir die nicht gespielt haben.

Wie sind auf euren Touren die Rollen verteilt? Wer macht was?

Tobi: Den Bus fährt immer Michi. Er würgt aber auch mal einen Diesel ab. (alle lachen) Er ist unser Organisator und hält die Fäden in der Hand. Wir anderen trinken gern ein Bierchen, bevor wir die Backline einladen. Dann wird Michi manchmal unentspannt.

(wieder Lachen) Muchel ist unser Tetris-Meister. Er kann unsere Sachen akkurat im Bus verstauen. Das Artwork für Abschlach! macht auch Muchel. Tom sitzt immer hinten rechts im Bus, immer. Wenn wir im Hotel schlafen, ist die Aufteilung auch klar. Einer aus der Band kriegt ein eigenes Zimmer, weil er unfassbar schnarcht.

Hattet ihr schon mal richtig Zoff?

Alle: Ne. Nö. Nein.

Muchel: Wir sind eine absolut demokratische Band und treffen alle Entscheidungen gemeinsam.

Was macht ihr, wenn einer nicht kann?

Boris: Das hatten wir erst einmal. Da war Muchel krank. Ansonsten ist die Regel eisern: Alle oder keiner. Wir können ja nicht ohne Schlagzeug, zum Beispiel.

Große Freiheit 36: Das Jubiläumskonzert am 6. September 2018 war sofort ausverkauft.

Welches Konzert war am weitesten entfernt von eurer Heimat Hamburg?

Sven: München. Bei Brigada Bavaria im Jahr 2007. Vor dem Spiel haben wir auf dem Parkplatz der Allianz-Arena den Grill angeschmissen. Michi, der für die Bandkasse verantwortlich ist, hat uns in die Metro geschickt. Da haben wir über die Stränge geschlagen und nicht nur Garnelen, sondern gleich noch einen Kühlschrank für die Getränke gekauft. Wir haben 280 Euro ausgegeben. Michi hat gefragt, ob wir noch alle Latten am Zaun hätten. Der HSV hat übrigens gewonnen.

Wie viele Gigs spielt ihr im Jahr?

Tobi: So zwischen fünf und zehn. Wir haben ja Familien und Jobs. Es geht schon viel Zeit drauf. Für die Studioaufnahmen nehmen wir zwei Wochen Urlaub. Wir proben jeden Dienstag. Es gibt familienfreundlichere Hobbys.

Gab’s auch mal müde Phasen, Bandkrisen?

Tom: Eigentlich nicht. Wir wollten aber mal im Volkspark spielen, als es wieder nah am Abstieg war, und dann war uns einfach nicht danach. Da haben wir abgesagt, weil die Stimmung so gedrückt war.

Worauf freut ihr euch heute Abend am meisten?

Sven: Auf die Leute. Auf die Stimmung. Wir wollen gut abliefern.

Kennt ihr die Menschen im Publikum?

Muchel: Ja, über die Jahre lernt man die Leute persönlich kennen. Sie kommen auch zu Konzerten, die kleiner sind. Danach sprechen wir miteinander und trinken ein Bierchen. Wenn wir heute nach dem Auftritt in die Tankstelle gehen, treffen wir den ein oder anderen, der von weit her gefahren ist, um uns live zu sehen. Das war beim letzten Mal auch lustig. Aber daran können sich die anderen besser erinnern … (lautes Gelächter der anderen Bandmitglieder)

Ist der Abend durchchoreografiert? Habt ihr eine Setlist?

Boris: Ohne Setlist geht es nicht. Wir müssen auch proben. Die Leute denken, das ist aus dem Ärmel geschüttelt. Aber so ist es nicht. Wir spielen gleich drei Songs vom neuen Album. Das ist ja gestern erst rausgekommen, daher kennen es noch nicht viele. Wir bringen vor allem Klassiker vom ersten Album, die wollen die Leute hören.

Können eure Fans spontan Wünsche äußern?

Tobi: Ne, das könnten wir gar nicht bedienen. Dazu haben wir zu viele Songs. Aber wir haben einmal 25 Lieder geprobt und für den Gig auf Zettel geschrieben. Dann durften die Leute auf die Bühne kommen und einen Song ziehen, den wir dann gespielt haben. Da stand aber auch Helene Fischer mit drauf, oder dass einer einen Kurzen trinken muss. Das war letztes Jahr in Münster. In Brome bei Renate im Schuppen haben wir das auch schon mal gemacht.

Habt ihr einen Albtraum, was auf der Bühne passieren kann?

Muchel: Mein Albtraum ist eine Erkältung. Ich trinke seit Tagen Ingwer-Shots. Morgen ist die Stimme eh weg. Gleich wird alles rausgehauen. Die Stimme muss zwei Stunden halten.

Tom: Wenn die Technik nicht läuft, ist es schlimm. Wir machen ja alles selbst, da schleppt keiner die Instrumente und stöpselt uns ein. Heute haben wir zwei Leute dafür, weil wir an diesem besonderen Tag direkt feiern wollen, sonst aber nicht.

Tobi: Gleich gibt es ein Intro mit Fotos aus 15 Jahren Abschlach!. Da hoffen wir, dass es klappt. Wir konnten das im Probenraum nicht ausprobieren.

Boris: In Lübeck hat mal meine Gitarre keinen Ton gemacht. Ich stand da in der coolsten Pose und nichts passierte. Bei Facebook haben die Fans das aber abgefeiert. Oder nach einem Wolfsburg-Spiel, als wir in der Tankstelle gespielt haben. Das ist über zehn Jahre her. Die Leute kamen mit den Zügen an, nach drei Stücken haben wir erst gemerkt, dass der Gitarrenverstärker nicht an war.

Vergesst Ihr nie eure Texte?

Muchel: Doch klar. (alle lachen) Aber das ist kein Albtraum, das ist völlig normal. Wir spielen auch falsch. Das macht uns aus. Die Fans warten drauf und helfen uns da durch.

Was sind magische Momente, wenn ihr live spielt?

Sven: Es ist zwei Stunden lang krasser Sport. Auf der Bühne kommt man in so einen Tunnel. Das vergeht wie im Flug.

Boris: Der erste Moment ist besonders. Aber auch, wenn wir eingegroovt sind, die ersten vier, fünf Songs gesessen haben und wir uns sicher fühlen.

Muchel: Das Publikum braucht auch oft ein bisschen Zeit, ist nicht immer beim ersten Song gleich da. „Mein Hamburg lieb ich sehr“ spielen wir meist als Zugabe. Das ist unser „Wind of Change“. Heute gibt’s aber eine superschöne Überraschung. Special Guest Fred Timm spielt den Klassiker „Trotzdem HSV“ als letzten Song. Wir stehen einfach dabei und genießen. Darauf freuen wir uns sehr.

Wer hat die Hymne „Mein Hamburg lieb ich sehr“ geschrieben?

Tobi: Henning. Aber nur den Text. Vorlage ist die Melodie eines nordirischen Volksliedes. Es gibt auch eine Version von Rod Steward.

HSV-Fans haben „Mein Hamburg lieb ich sehr“ am 12. Mai auf eine neue Ebene gehoben. Wie habt ihr diesen Moment erlebt?

Sven: Ich hatte Tränen in den Augen, als das Stadion unseren Song in der achtzigsten Minute angestimmt hat. Das war krass. Schon wieder habe ich Gänsehaut.

Muchel: Im Stadion konnte ich das erst noch gar nicht realisieren. Der Moment war typisch Hamburg: Jetzt erst recht. Alle stehen zusammen und singen.

Boris: Das hatte hanseatische Würde.

Tobi: Der Abstieg war logisch und hat mich dann nicht mehr so getroffen. Aber als ich das Lied gehört habe, war es vorbei mit mir.

Wie geht’s weiter nach heute Abend? Was sind eure nächsten Projekte?

Boris: Wir planen nicht. Das zeichnet uns auch aus. Unsere CD „Geile Zeit“ ist gestern rausgekommen. Jetzt sind wir gespannt auf die Reaktionen. Wir lassen alles auf uns zukommen. Blöderweise sind wir aus unserem Probenraum rausgeflogen, weil das Haus in der Amsinckstraße abgerissen wird. Es ist nicht leicht, einen neuen zu finden.

Was macht ihr, unmittelbar bevor ihr auf die Bühne geht? Habt ihr ein Ritual?

Muchel: Wir sagen „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb“, und dann gehen wir raus. Gleich kommen noch ein paar Freunde, wir ziehen uns um und los geht’s. |